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Digital In Arbeit

Kamera im Dom

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Aus der Feder eines Berufenen, des achtzigjährigen Wiener Architekturphotographen Bruno Reiffenstein, bringen wir im nachstehenden eine Darstellung der Eigenart und Schwierigkeit der Dokumentarphotoarbeit bei den Restaurierungsarbeiten im Stephansdom. Eine Auslese dieser Bilder schmückt die Seiten unseres heutigen Blattes.

Ehe die Katastrophe im Jahre 1945 unserem alten Stephansdom die Wunden schlug, war dem Architekturphotographen von ungezählten Aufnahmen in früherer Zeit her jede Stimmung und Beleuchtungsart in jedem Winkel zu jeder Jahres- und Tageszeit, ja fast zu jeder Stunde geläufig. Mit den Schutthaufen, den eingestürzten Gewölben und geborstenen Pfeilern, den öden Fensterhöhlen war natürlich die weihevolle Stimmung gebrochen und alles anders geworden.

Wenn unmittelbar nach den Unglückstagen dsa Innere des Doms mit seinen oft bizarren Umformungen wohlvertrauter Erinnerungsbilder manchen Zeichner und Maler verlockt hat, das Unfaßbare festzuhalten, es in Katastrophenstimmung zu tauchen, so wurde später, als es an das große Aufräumen ging, das Blickfeld allmählich jeder Sensation bar und nicht mehr interessant oder malerisch befunden. Die Illustratoren blieben allmählich aus …

Jetzt erstand erst das eigentliche Arbeitsfeld des Berufsphotographen. Er muß seine Tätigkeit auf dokumentarische, auf Tatbestandsaufnahmen beschränken. Seine Aufgabe ist die Darstellung des vorgefundenen Bauzustandes im ganzen wie im einzelnen, der getroffenen Vorkehrungen zu Beginn der Restaurierungen, der Wiederaufbauarbeiten in ihren wichtigsten Phasen und schließlich des Ergebnisses — Arbeiten also, die jedem erfahrenen Architekturphotographen aus der Praxis wohlvertraut sein müssen. Und doch sieht er sich immer wieder vor überraschende Probleme gestellt — kein Wunder bei einem Wiederaufbau von solchen Dimensionen!

Man muß sich vorstellen, daß das ganze Innere des Doms ein einziges großes Gerüst bildet: auf ihm spielt sich die Tätigkeit des Photographen ab. Und da es nicht dazu da ist, ihm die besten Blickpunkte zu geben, muß er sich eben selber den Weg durch Leitern, Pfosten, Balken und Bretter bahnen, um sich oft nicht vielmehr als ein Guckloch oder ein Plätzchen zu sichern, wo er eine interessante Netzgewölbelösung oder eine Rippendurchdringung mit der Kamera erfassen kann.

Dieses Photographieren mit einem großen Apparat senkrecht nach oben zum Beispiel ist eine sehr unbequeme und auch sehr anstrengende Arbeit. Ich habe mir daher für derlei Aufnahmen eine Spezialkamera konstruiert, die diese Aufgabe wesentlicHerleichtert. Der Apparat besteht aus einer Vertikalkamera mit fixem Konus, der nur oben beim Objektiv einen kurzen Balgansatz trägt. Eine Seitenwand des Konus kann herausgehoben werden und der Beobachter kann nun in Draufsicht das auf eine weiße Papierfläche projizierte Bild beurteilen, was früher nur in der Durchsicht durch die Mattscheibe in höchst unbequemer Rückenlage möglich war. Überdies sind in der Auffangfläche in der Mitte und an den vier Eckpunkten kleine Taschen- batterielämpchen eingesetzt, die sich, unter Strom gesetzt, als Lichtpunkte durch das Aufnahmeobjektiv an die Decke projizieren und die Grenzen des bestrichenen Feldes sowie die Bildmitte genau markieren. Dadurch wird sowohl das Aufsuchen des Bildausschnittes wie die richtige Placierung des Bildes im Plattenfeld erleichtert.

Aber nicht nur photographische Schwierigkeiten ergeben sich, auch rein physisch stellt das Arbeiten manchesmal große Anforderungen, wie zum Beispiel bei der Aufnahme des obersten Teiles eines unterfangenen Chorpfeilers, zu der nur ein winziges Plateau von kaum zweieinhalb Meter im Quadrat zur Verfügung stand. Auf ihm mußten der Photograph, der Assistent und die Kamera mit starkem Stativ Platz finden. Hinter dem schmalen Geländer gähnende Tiefe. Obwohl ich versicherte, vollkommen schwindelfrei zu sein, wollte der Polier die Verantwortung nicht übernehmen und so mußte ich es mir gefallen lassen, wie ein Hochtourist angeseilt zu werden. Es war also ein Exponieren auf sehr exponiertem Terrain.

Wie dieses Beispiel zeigt, ist die Aufstellungsdistanz oft derart gering, daß den Objektiven da Äußerste zugemutet werden muß, das heißt, daß man zu den stärksten Weitwinkelinstrumenten greifen muß, um das verlangte Objekt ins Bild zu bekommen. Aber auch das Gegenteil kann eintreten: ein Pfeilerkapitell im Mittelschiff der Kirche soll von dem Gerüst eines gegenüberliegenden Pfeilers in 15 Meter Entfernung möglichst groß aufgenommen werden. Hier kann die Brennweite wieder nicht groß genug sein. Ich schätze sie auf 80 bis 100 Zentimeter — woher sie nehmen?

Da fällt mir ein, daß ich zu Hause noch Objektive aus längst vergangener Zeit besitze. Sie fristen dort ein friedliches Pensionistendasein, weil sie einen derartigen Fokus haben, daß ich im Atelier nichts Rechtes damit anzufangen wußte. Also heraus aus dem Kasten, ihr guten alten Voigt- länder- und Steinhcil-Kanonen. Nun zeigt noch einmal, was ihr könnt! Lind wirklich, der Erfolg in ihrem neuen Wirkungskreis ist überraschend. Mühelos kommt das Kapitell in respektabler Helligkeit über die ganze Platte. Diese Überbrückung größerer Luftlinien ist eine sehr angenehme Zugabe, weil sie oft die mühselige und zeitraubende Heranbringung von Gerüsten erspart.

Ich habe dieselben Instrumente dann auch zur Aufnahme von Fassadenpartien oder architektonischen Details aus größerer Entfernung benützt und damit die besten Erfahrungen gemacht. Denn die übergroße Brennweite und der dadurch bedingte kleine Bildwinkel oeeinflussen die perspektivische Darstellung des Objekts insofern sehr günstig, als die zentrale Perspektive mehr in eine axonometrische übergeht, die dem geübten Auge des Architekten viel mehr zusagt und auch dem Laien die Bildwirkung angenehmer erscheinen läßt. Keine noch so gute Vergrößerung, geschweige denn eine Teleaufnahme, reichen hier heran.

Die sonst übliche Bemessung der Güte oder des Wertes der Objektive nach ihrer Lichtstärke trifft für die Architekturphoto- graphie nicht zu. Sie hat ja lediglich leblose Objekte darzustellen, die unentwegt stillhalten, und außerdem wird durch die stets notwendige Tiefenschärfeabblendung die Lichtstärke wieder kompensiert. Auch ist die Dauer der Exposition von nebensächlicher Bedeutung. Viel wichtiger ist klare, reflexfreie und korrekte Zeichnung sowie gleiche Helligkeitsverteilung über die ganze Platte.

Die Lichtverhältnisse in den weiten Räumen des Langhauses sind sehr verschieden,’ so daß die Expositionsdauer zwischen Sekunden und Stunden schwankt. Namentlich in den oberen Regionen wird das Tageslicht, hervorgerufen durch die vielen Gerüstunterteilungen, immer schwächer. Daher ist künstliches Licht unbedingt nötig, und es ist ein Glück für den Photographen, daß das ganze Dominnere von einem weitverzweigten Kabelnetz durchzogen ist, so daß der Hauselektriker dem Aufnehmenden auf dem Fuße folgen kann.

Größere Raumpartien, wie Gewölbekonstruktionen oder anderes, können direkt angestrahlt werden, wobei ein vorsichtiges Bewegen der Lampen angezeigt ist, damit den Konturen die Härte genommen wird. Die Nitraphotlampe aber wird ein fragwürdiger Behelf, wenn es sich um Detailaufnahmen plastischer Objekte handelt. Wie schön sieht doch so ein Pfeilerkapiteli im Scheinwerferlicht aus! Wie plastisch heben sich die hellsten Lichter von den dunkleren Partien ab! Aber als Endresultat käme das heraus, was man in der Photographensprache einen „Salat” nennt. Man wird daher in diesen Fällen unbedingt von der direkten Bestrahlung Abstand nehmen und nur bei indirektem Licht aufnehmen, etwa so, daß man eine gegenüberliegende größere Fläche scharf anleuchtet und das Objekt im diffusen Reflexlicht aufnimmt, oder daß man künstliches Licht überhaupt ausschaltet und, wo es angeht, bei schwächerem oder schwächstem Tageslicht weiterarbeitet, sei es auch um sehr lange Expositionen erkauft. Es tritt dann bei solchen übermäßig langen und bei schwächstem Licht vorgenommenen Belichtungen das Merkwürdige ein, daß sich die Monotonie des schwachbeleuchteten Objekts nicht auf das Negativmaterial überträgt, sondern es im Gegenteil kontrastreicher macht. Dieses Paradoxon ist dadurch zu erklären, daß die Reduktion der Bromsilbermoleküle in den verschiedenen Helligkeitszonen nicht im gleichen, sondern in den helleren Zonen in einem multiplen Verhältnis erfolgt. Nehmen wir zum Beispiel der Einfachheit halber nur vier Gradationen an, so wird die Schwärzung bei etwa zehnmaliger Exposition nicht 10 : 40, sondern 10 : 100 erfolgen. Die Summation der Lichteindrücke wird sich also in den verschiedenen Zonen verschieden äußern.

Man darf aber nicht verallgemeinern und die direkte scharfe Beleuchtung überhaupt ablehnen. Das obige Beispiel bezog sich ja nur auf den speziellen Fall kompliziert gebildeter Kleinplastik. Im umgekehrten Falle kann zum Beispiel eine Inschriftentafel überhaupt nur bei sehr schräg geführtem scharfem Licht erst leserlich gemacht oder ein schwachreliefiertes Epitaph zur vollen Wirkung gebracht werden.

Bei übermäßig langen Expositionen mit einer Kamera zu arbeiten, ist höchst unrationell; während die eine läuft, kann eine zweite Aufnahme in aller Ruhe eingestellt und aufnahmebereit gehalten werden.

Die wichtige Frage: Kleinkamera oder Großplatte kann nach dem Vorhergesagten nur zugunsten der letzteren entschieden werden. Wenn auch in einzelnen Fällen die Kleinkamera unschätzbare Dienste leisten kann, so hat doch die Großkamera häufiger das Wort. Die Aufnahmen müssen doch in allen Details von der Mattscheibe aus beobachtet werden können, und dazu ist das winzige Sucherbildchen viel zu klein. Auch ist die Expositionsbestimmung, die der Photograph vom VisienscheibenbiLd abzulesen gewohnt ist, in diesem Fal’j unmöglich, denn jeder Expositionsmesser versagt, wenn eine gewisse Grenze der Raumhelligkeit unterschritten wird. Ein großer Nachteil des Kleinfilms ist auch, daß das Negativ keiner Nachbehandlung unterzogen werden kann. Partielle Verstärkungen oder Abschwächungen sind aber bei den abnormen Aufnahmeverhältnissen an der Tagesordnung und von höchster Wichtigkeit, um ein druckreifes Negativ zu erhalten. Unbestritten ober bleibt das Verdienst dar Kleinkamera in solchen Fällen, wo bei gutem Licht raschwechselnde Situationen eines Arbeitsvorgangs festgehalten, besser eingefangen -werden müssen.

Hat man sich längere Zeit unter den schwierigsten Lichtverhältnissen im Innern des Doms abgemüht, so wirkt es geradezu erlösend, sich wieder einmal im strahlenden Sonnenlicht zu betätigen. Auch die schweren äußeren Schäden des Doms müssen ja registriert und in den verschiedenen Phasen der Ausbesserung und der Wiederherstellung festgehalten werden. Könnte man nur alle derartigen Aufnahmen auf die Sommerszeit aufsparen! Aber ohne Unterbrechung geht der Wiederaufbau vorwärts und bald sind sie wieder da, die Tage, da der eiskalte Wind um die Ohren pfeift und die Finger erstarren macht. Der Wind um den Stephansturm ist ein sehr unangenehmer Geselle. Er ist übrigens sagenumwoben, und der Teufel ist irgendwie dabei mit einem Baumeister im Spiel. Im Volksmund heißt es heute noch: „Um den

Stephanstum geht immer der Wind!” So weiß ich aus eigener Erfahrung, daß -in mäßig windigen Tagen schon auf der Höhe des unausgebauten Turmes tückische Böen und Windstöße ihr Spiel treiben, die das Arbeiten sehr erschweren und mir einmal sogar in einem unbewachten Moment das Einstelltuch in die Höhe rissen ich sah es erst hinter der Kuppel der Peterskirche auf einem Dache landen.

So fehlt es bei diesen Arbeiten nie an Zwischenfällen, technischen Problemen und unvorhergesehenen Schwierigkeiten. Besonders das Fehlen jener wunderbaren Materialien, die durch Wissenschaft, Technik und Industrie heute schon dem Photographen zur Verfügung stehen sollen, dem Österreicher aber immer noch nicht zur Verfügung stehen, legt sich bisweilen lähmend auf die Arbeit. Trotzdem macht es immer wieder Freude, ja es erfüllt nicht selten mit richigem Stolz, diese Schwierigkeiten zu überwinden und im Dienste der hohen Sache das Beste zu geben.

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