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Kindersterben in Brasilien

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Die auf interamerikanischer Ebene durchgeführte Untersuchung über die Kindersterblichkeit hat wieder die Aufmerksamkeit auf die erschütternden Gesundheitsverhältnisse in Brasilien gelenkt. 50 Prozent aller Brasilianer sterben unter fünf Jahren (in Dänemark 5 Prozent). Im Alter bis zu einem Jahr sterben von 1000 Neugeborenen in den Großstädten durchschnittlich 70, in dem nordöstlichen Elendsgebiet bis zu 363 (in Schweden 13).

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Die auf interamerikanischer Ebene durchgeführte Untersuchung über die Kindersterblichkeit hat wieder die Aufmerksamkeit auf die erschütternden Gesundheitsverhältnisse in Brasilien gelenkt. 50 Prozent aller Brasilianer sterben unter fünf Jahren (in Dänemark 5 Prozent). Im Alter bis zu einem Jahr sterben von 1000 Neugeborenen in den Großstädten durchschnittlich 70, in dem nordöstlichen Elendsgebiet bis zu 363 (in Schweden 13).

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Die Hauptursache der Säuglingssterblichkeit liegt in infektiöser Diarrhöe, die zu Deshidradation führt und im Wesen eine Folge unzureichender Ernährung und mangelhafter hygienischer Verhältnisse ist. Wie stark sich die Unterernäh: rung auswirkt, ann man daraus entnehmen, daß auch in dem reichsten Staate Brasiliens, in Säo Paulo, ein Drittel aller zum Heeresdienst einberufenen Rekruten wegen körperlicher Schwäche dienstuntauglich erklärt wird, ein weiteres Drittel aus anderen gesundheitlichen Gründen. In der medizinischen Fakultät von Pernaimibuco wurden 350 Todesfälle von Kindern nachgeprüft: zehn von ihnen waren direkt an Hunger gestorben, aber auch die übrigen waren völlig unterernährt. Dieselbe Universität hat festgestellt, daß der tägliche Nahrungsmittelkoneuni der Bevölkerung dieser Zone in den letzten zehn Jahren von 2000 auf 1300 Kalorien gefallen ist: Abgesehen von dem Hunger ist die Wasserversorgung die Hauptursache für die Kindersterblichkeit, vor allem in den ländlichen Gebieten. Nur etwa ein Viertel der Brasilianer verfügt über Wasserleitungen und weniger als ein Fünftel über Kanalisation.

Diese Situation führt zu den Wurmkrankheiten. Man sagt, daß 50 Prozent der Brasilianer von ihnen befallen sind. Das Erstaunliche ist aber, daß auch Europäer in Säo Paulo, die alle denkbaren Vorsichtsmaßnahmen treffen, nicht in der Lage sind, Wurmkrankheiten der verschiedensten Art von sich und ihren Kindern fernzuhalten. Die schwerste dieser Wurmkrankheiten heißt „Esquiitos-somose“, an der sechs Millionen leiden sollen; sie führt zu gefährlichen Leberschädigungen. Das Gesundheitsministerium behauptet, daß fünf Millionen dieser Kranken in 149 Orten in Behandlung stehen. Doch sind alle diese Statistiken mit äußerster Vorsicht aufzunehmen. Von größter Bedeutung ist ferner die Chagas-Krankheit, an der 3 Millionen Brasilianer leiden sollen. Sie ist nach Carlos Chagas benannt, der im Jahre 1909 ihren Bazillus entdeckt hat. Sie ist eine Erkrankung des Blutkreislaufs und führt zu Zisten, besonders im Herzen. (Die erste in Brasilien vorgenomimene Herzverpflanzung betraf einen solchen Fall.) Es gilbt bisher kein Mittel gegen diese Krankheit, doch geht man gegen ihren Träger vor, eine Wanzenart, die in den Wänden sitzt. Im Jahre 1969 will das Gesundheits-ministerium 1,300.000 Häuser mit DDT bespritzen.

Ebenso wird mit äußerster Energie jetzt weiter gegen die Malaria gekämpft, die in 90 Prozent des brasilianischen Gebietes endemisch ist.

Trotz aller Krankheiten ist die Sterbl'ichkeitsasahl in den letzten 20 Jahren um etwa die Hälfte gefallen, fast genau den Prozentsatz, um den das Sozialprodukt gestiegen ist. So ist nach den letzten Feststellungen der Weltgesundheitsorganisation das Durchschnittsalter der Brasilianer auf 50 Jahre gestiegen. Diese relativ hohe Lebenserwartung verliert freilich an Gewicht, wenn man bedenkt, daß, nach derselben Quelle, in dem benachbarten Uruguay, das allerdings in bezug auf Klima und Sozialstruktur weitaus günstigere Bedingungen aufweist, die Lebenserwartung 70 Jahre ist.

Wie unsicher alle Statistiken sind, zeigt die Debatte über die Ärzteschaft. Protestierende Medizinstudenten behaupteten in einem Manifest, das sich auf Zahlen der medizinischen Vereinigung von Guana-bara beruft, daß in Brasilien ein Arzt auf 6000 Bewohner komme, während jetzt bekanntgegebene offizielle Zahlen einen Mediziner für 2300 Bewohner errechnen. Das Hauptproblem ist dabei die völlig ungesunde Standortverteilung. Die Ärzte sind auf die Großstädte konzentriert. So kommt in Rio de Janeiro ein Arzt auf 600 Einwohner, während im Amaizonasgebiet 650.000 Bewohner von sieben Ärzten betreut werden sollen. Die Verbesserung der Gesundheitspflege bleibt ein entscheidendes Problem für die Entwicklung Brasiliens.

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