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Geisteskrankheiten und Alkoholismus

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Nun kommt ein Kapitel, das leider noch weniger erfreulicher ist. Ich meine die Entwicklung der Geisteskrankheiten und dabei ganz besonders die des Alkoholismus.

Ich habe mir von dem Direktor unserer größten Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ einen Bericht geben lassen, aus welchem ich Ihnen und damit unserer ganzen Bevölkerung nachfolgende, besonders markante und besonders erschütternde Teile weitergeben möchte: Es ist erschreckend zu hören, daß der jährlich« Zuwachs auf diesem Gebiete schön über 350 Kranke beträgt und daß der effektive Gesamtzuwachs an Geisteskrankheiten in den letzten sechs Jahren insgesamt die Ziffer von 2125 (1054 Männer, 1071 Frauen) erreicht.

Einen guten Überblick über die Zunahme der wichtigsten Psychosen ergibt eine Statistik. Danach ist der Prozentsatz der mit der Diagnose Schizophrenie eingelieferten Personen mit 17 gleichgeblieben. Die Zahl der Epileptiker ist sogar etwas zurückgegangen, dagegen ist jedoch die Zahl der Alterspsychosen und der Fälle von Trunksucht gegenüber der Zeit vor 1938 gewaltig angestiegen. Der prozentuelle Anteil der Alterspsychosen ist von 14,2 Prozent im Jahre 1932 auf 28,1 Prozent im Jahre 1951 angestiegen, was einer Verdopplung dieser Aufnahmen entspricht. Die Ursache hiefür mag in erster Iinie in der Überalterung, aber auch in den gedrängten Wohnverhältnissen und in dem Mangel eigener Siechenabteilungen in den Altersheimen gelegen sein. Eltern, Kinder und Kindeskinder sind vielfach gezwungen, in überfüllten Wohnräumen zu leben, so daß eine kranke Person zu Hause nicht mehr tragbar erscheint. Außerdem hat sich aber gezeigt, daß Erkrankungen mit seniler Demenz verhältnismäßig frühzeitig, oft schon vor dem 60. Lebensjahr, in die Heilstätte eingeliefert werden.

Noch katastrophaler ist aber der seit dem Jahre 1945 ständige Anstieg der Alkoholiker. Unmittelbar vor 1938 bewegten sich die Aufnahmen von Trunksüchtigen gegenüber den Gesamtaufnahmen zwischen 12 und 14 Prozent, während im Jahre 1951 der' Prozentsatz bereits eine Höhe von 23,7 Prozent erreicht hat und auf Grund der monatlichen Aufzeichnungen gesagt werden kann, daß dieser Prozentsatz auch weiterhin noch eine ansteigende Tendenz zeigt. Vor allem bei den männlichen Aufnahmen ist bereits fast jeder zweite Fall ein Alkoholiker (40,6 Prozent, bei Frauen 5,7 Prozent).

Sie ersehen aus diesem Bericht, daß vor allem bei den Männern die Erkrankungen durch Alkoholmißbrauch in einer ganz erschreckenden Weise zugenommen haben. Wenn Sie an Freitagen oder an anderen besonders „gefährlichen“ Terminen mit offenen Augen durch unsere Stadt gehen, dann werden Sie sicher des öfteren selbst feststellen können, wie sehr der Alkoholismus in den letzten Jahren zugenommen hat. Die Folgen sind zerrüttete Familien und kranke Menschen; die Folgen haben“ aber auch wir alle, hat unsere ganze Bevölkerung durch ihren Anteil an der Erhaltung unserer Geisteskranken in den Heil- und Pflegeanstalten zu verspüren bekommen und mitzubezahlen.

Ich weiß, daß es dringend notwendig wäre, die Alkoholiker von den übrigen Geisteskranken abzusondern, sie einer speziellen Behandlung zuzuführen und auch die nachgehende Fürsorge gerade in diesen Fällen auszugestalten. Hoffentlich wird es uns möglich sein, im kommenden Jahre wenigstens etwas auch auf diesem sehr ernsten Gebiete vorwärts zu kommen. Ich möchte aber sagen, daß ich gerade hier die Vorsorge, die Aufklärung und die richtige geistige Ausrichtung unserer Bevölkerung, Vor allem unserer Jugendlichen, für noch weitaus wichtiger erachte als alle Fürsorgemaßnahmen und dergleichen. Ich brauche wohl nicht sonderlich unterstreichen, daß es eine Ungeheuerlichkeit ist, wenn, der Schnaps und der Fusel, wie zum Beispiel von den USIA-Geschäften, in immer größerer Masse angeboten, angepriesen und fast aufgezwungen wird, ich möchte noch vielmehr auf die große Verantwortung hinweisen, die wir alle zusammen, die politischen Parteien, die Kirchen aller Bekenntnisse, ganz besonders aber die Jugendorganisationen, die Lehrer und Erzieher unseres Volkes gerade hier zu tragen haben. Wer sich daran erinnert, wie sehr es der Jugendbewegung nach dem ersten Weltkrieg in überraschend kurzer Zeit gelungen war, durch ihre Parolen vom gesunden, natürnahen und naturhaften Leben, durch ihre Erziehung zum Wandern, zu Sport und Spiel, zur inneren Wahrhaftigkeit, zu einer aufrechten Gläubigkeit usw. breiteste Schichten der jungen Generation von damals vom Alkohol überhaupt fernzuhalten, der kann die Lage von heute nur zutiefst bedauern. Wir dürfen hier aber nicht einfach klagen und stillehalten! Wir müssen alle zusammen begreifen, um was es hier geht und müssen alle zusammenhelfen, aufklären, Vorsorgen und, soweit es unerläßlich ist, natürlich auch heilen. Leider geht auch hier der Streit oft allzusehr um die Methoden, um diese oder jene mehr oder wenig allein berufene „Schule“ usw., und er geht weit höher als das

Bemühen, in gemeinsamer Arbeit den größtmöglichen Erfolg zu erzielen. Ich würde mich freuen, wenn meine heutigen öffentlichen Feststellungen gerade auf diesem Gebiete von einem sichtbaren Erfolg begleitet wären.

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