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Österreichische Wundmale des Krieges

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Es ist verwunderlich und auch nur durch die Eigenart der Nachkriegsgeschehnisse zu erklären, daß bis zum heutigen Tage über die ungeheuren Opfer, welche Österreich der zweite Weltkrieg gekostet hat, noch keine umfassende Berechnung erstellt wurde *.

Für eine Veranschaulichung der einschllä-gigen Tatsachen bietet der erste Weltkrieg ein Vergleichsobjekt, das zum Erinnerungsinihalt eines großen Teiles der lebenden Generation gehört urft sich aus der Erfahrung und der inzwischen erfolgten geistigen Verarbeitung zu einem abgerundeten Vorstellungskomplex mit Vergleichtwert verdichtet hat. Dabei sind jedoch für eine Schätzung der Opfer an Leben und Gesundheit Unterschiede beachtenswert. Denn die reichs-deutsche Kriegführung griff weitaus rücksichtsloser in das österreichische Menschen-material ein, als dies im ersten Weltkrieg geübt wurde. Alter und Tauglichkeitsgrad spielten kaum mehr eine Rolle. Mir ist aus dem Jahre 1943 ein Befehl in Erinnerung, in dem es hieß, daß Soldaten ohne Rücksicht auf ein bestehendes Leiden ins Feld abzustellen seien, wenn man nur annehmen könne, daß sie irgendwie-14 Tage aushielten.

Auch die Frauen wurden in einem beachtlichen Prozentsatz zum Dienst in der Kriegsmaschine herangezogen und manche teilte beim Zusammenbruch der Armee das Los des einfachen Soldaten mit all seinen Gefahren. Man versuchte auch die männliche Jugend bis in die Elementarschulen hinab für den Kampf auszubilden nnd hat sie schließlich auch dazu verwendet. Außerdem kommt in Betracht, daß im letzten Krieg auch das ausgesprochene Hinterland durch die Angriffe aus der Luft in schwerste Mitleidenschaft gezogen wurde.

Diese Momente, in denen sich die furchtbare „Totallität des- Krieges“ widerspiegelte, begründen es, daß wir alle Altersklassen, vom Säugling bis zum Greis, und beide Geschlechter unter den Opfern des Heimatlandes vertreten finden. In welcher Weise die im Interesse einer biologisch gesunden Bevölkerungsentwicklung wünschenswerte Relation der Geschlechter und Altersstufen durch diesen Krieg weniger nachteilig beeinflußt wurde, darüber gibt eine Kalkulation für Wien folgendes Bild: Die gegenwärtig errechnete Zahl gefallener und gestorbener Militärpersonen belauft sjch in Wien auf 2 8.7 11. Wenn wir zu den 28.711 von den als vermißt gemeldeten einen vorsichtig eingeschätzten Anteil an Toten zählen, so erhöht sich diese Zahl um 15.000, und wir erhalten als Endergebnis die Summe von insgesamt 4 3.700 Toten Heeresangehörigen aus Wien. Die Zahl der durch Kriegseinwirkung (Luftkrieg und Befreiungsschlacht von Wien) um das Leben gekommenen Wiener beträgt 12.622 Zivilisten, darunter 7016 Frauen. Es steht, also neben dem Verlust von 43.700 Soldaten jener von 12.622 Zivilisten. Im ersten Weltkrieg betrug die Zahl der Todesopfer für Wien 24.000 Heeresangehörige (allerdings ohne , Vermißte). Der Ausfall an Menschenleben war in der letzten Kriegskatastrophe jedenfalls viel größer als aus den Jahren 1914 bis 1918. Auch die indirekten Kriegsopfer waren im letzten Krieg bedeutend größer. 1918 wurden 42.000 auf Seuchen sowie auf den sozialhygienischen Tiefstand zurückzuführende Todesfälle verzeichnet. 1945 betrug die Zahl solcher Todesfälle 62.000, obwohl es keine eigentlich bösartigen Epidemien gab. 1918 war es hauptsächlich die Grippe, welche die Menschen wegraffte, während 1945 neben den infektiösen Darmerkrankungen besonders der durch den Hunger verursachte Zusammenbruch der allgemeinen körperlich-seelischen Widerstandskraft in Erscheinung trat. Diese Verluste verteilten sich über alle Altersstufen beider Geschlechter.

So sehen wir, daß der Krieg von 1939 bis 1945 die Volkssubstanz nicht nur infolge des direkten Blutverlustes, sondern auch durch eine weitere Verschlech-terungderbiologischenGesamt-struktur schwer geschädigt hat. Dies kommt vor allem in den Tatsachen der Z u-nahme des Frauenüberschusses und der Vergreisung drastisch zum Ausdruck. Wien weist heute bei einer Gesamtbevölkerung von 1,690.000 Einwohnern mit 697.000 Männern und 934.000 Frauen ein Männerdefizit von 23 7.0 00 auf. Folgende Jahresstatistik zeigt, wie ungünstig der letzte Krieg den an und für sich bereits seit Jahrzehnten in Erscheinung tretenden Frauenüberschuß weiterhin beeinflußt hat.

Auf 1000 der Bevölkerung entfielen:

1900 1910 1923 1934 1939 1947 Männer 485 481 463 455 452 427 Frauen 515 519 537 545 548 573

Auf 1000 Männer entfielen Frauen:

1900 1910 1923 1934 1939 1947 1059 1078 1161 1197 1211 1342

Die Vergreisung geht aus folgenden Zahlen hervor:

Altersgruppen Auf nebenstehende Altersgruppe Jahre entfallen Prozent d. Bevölkerung

1910 1923 1939 1946 50—55 4,7 6,1 7,9 8,9

55—60 3,7 4,9 7,1 '8,0

60—65 2,8 3,7 6,2 • 6,9

über 65 4,4 5,2 10,2 12,5

Das angeführte Beispiel bezog sich auf Wien. Die Landgebiete sind infolge der geringen Verluste unter der Zivilbevölkerung durch dieVergreisungwahrscheinlich noch schwerer betroffen. i

Für die Feststellung der Kriegsverluste und der Invaliditätsverhältnisse liegen derzeit abgeschlossene statistische Angaben nicht vor. Die Ursachen sind zum Teil klar. Während beim Kriegsende 1918 ein vollständiger Verwaltungsapparat für die Abwicklung aller Kriegsopferfragen vorhanden war, der nur an die kleineren Bedürfnisse des neuen österreichischen Bundesstaates angepaßt werden mußte, stand Österreich 1945 vor der Aufgabe, diese Organisation neu aufzubauen, da der reichsdeutsche Apparat nur im geringen Maße mit den Grundlagen und Zielen der wiedererstandenen Republik in Einklang zu bringen war. Außerdem lagen nach dem ersten Weltkrieg in Wien die amtlidien Verlustlisten des österreichisch-ungarischen Heeres vor. Die Verlustlisten des letzten Krieges wurden hingegen bei den Zentralbehörden in Berlin geführt, von wo sie heute viel schwerer und mit geringerer Aussicht auf Vollständigkeit zu erhalten sind. So stößt die restlose Erfassung der Kriegsopfer diesmal auf größere Schwierigkeiten. Das Bild der direkten Gesundheitsschäden des Krieges ist daher nur eine

Zwischenbilanz, die freilich einen hinreichenden Einblick in die abgrundtiefen Sdirecken des Krieges gestattet.

Die folgenden Zahlen beruhen zum Teil auf vorsichtigen Schätzungen. Aber sie sind errechnet auf Grund der derzeit vorliegenden Teilresultate und entsprechen den Annahmen der zuständigen Behörden.

Nach einer vom Magistrat Wien veranstalteten freiwilligen Zählaktion gilt von den ehemaligen von Wien abwesenden Heeresangehörigen gut ein Drittel, nämlich 1 t.OCC, * als gefangen, zwei Drittel, 29.000, als vermißt. Von diesen Zahlen ausgehend, ergibt eine Schätzung für ganz Österreich eine Zahl( von 150.000 Abwesenden, nämlich 50.000 Gefangenen und 100.000 Vermißten. Als tot sind bisher schätzungsweise 150.000 österreichische ehemalige Soldaten bekannt.

Bei Berücksichtigung aller Nebenumstände ergibt sich aus diesen Zahlen eine vermutliche Gesamtsumme von toten österreichischen Soldaten des zweiten Weltkrieges in der Hghe von 28 0.0 00 bis 30 0.0 00 Mann. Das bedeutet bei einer Gesamtbevölkerung von fast 7,000.000 im Jahre 1939 eine zahlenmäßige Schwä-chung der Volkskraft von 4 Prozent und eine Verminderung des männlichen Bevölkerungsanteiles von 8 Prozent. Der Gesamtverlust von 1.4 Millionen Toten der österreichisch-ungarischen Monarchie im ersten Weltkrieg stellte demgegenüber nur eine Einbuße von 2.8 Prozent der Bevölkerung dar, wobei allerdings der Prozentsatz für das Gebiet der österreichischen Bundesländer sicher etwas höher war.

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