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Ist die vielzitierte Insel der Seligen eine Märchen-Insel?

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Vor vier Jahren etwa stellte die ÖVP ihre Programme und Plakate in den Dienst der „Lebensqualität”. Karl Schleinzer wollte als „Lebensqualitäts”-Verbesserer Stimmen fischen. Das Ende des Konjunkturhöhenrausches ließ auch die „Lebensqualitäts”-Kam- pagne verstummen.

Was ist „Lebensqualität” - eine Leerformel? Oder ein neues Wort für eine alte Sache? Ein Reizwort, das Emotionen weckt? Von al lem steckt ein bißchen in diesem Begriff. Aber er besagt auch, daß ein Mehr an Produktion, an Gewinn und Konsum noch nicht automatisch ein Mehr an Zufriedenheit, an Glück und an Entfaltungsmöglichkeit für den einzelnen bedeutet, daß mehr nicht ohne weiteres auch besser ist, daß ein erfülltes Dasein nicht nur von der materiellen Wohlfahrt abhängt, sondern auch andere Ziele und Werte umfaßt.

Mit der „Lebensqualität” ist es ähnlich wie mit dem Glück: Jeder Rattenfänger kann es versprechen, kein Forscher hat es je gemessen. Und in Wahrheit entzieht es sich weitgehend dem Einfluß der Gesellschaft: Nichts spricht dafür, daß oberhalb von Hungersnot und Seuchen, Folter und leiblicher Not ein System die Menschen glücklicher macht als das andere. Und alles spricht dafür, daß die Summe des persönlichen Glücks und Unglücks von 10.000 Menschen in New York und Moskau, Saudi-Arabien und Brasilien, Peking, Prag oder Wien etwa konstant ist.

Lebensqualität als Superglück

Nun scheint in den entwickelten Industriestaaten die Rolle des altmodischen Glücks durch die Lebensqualität abgelöst zu werden: Lebensqualität als eine Art technologisiertes Glück, als ein Superglück für gehobene Volkswirtschaften - gemessen an der Zahl von Personenkraftwagen, TV-Gerä- ten, Telephonanschlüssen, Ärzten, Verkehrsunfällen, Selbstmorden usw. pro 100.000 Einwohner.

Berechnet wird „Lebensqualität” mit Hilfe sogenannter Sozialindikatoren. Seit gut 20 Jahren bemühen sich UNO- und OECD-Wissenschaftler, eine verbindliche Auswahl dieser Sozialindikatoren durchzusetzen. Leider vergeblich, wenn man bedenkt, daß in einschlägigen Untersuchungen immer wieder neue Sozialindikatoren an die Stelle alter treten.

Kürzlich veröffentlichte die „Arbeitsgemeinschaft für Lebensniveauvergleiche” eine von Dr. Lore Scheer verfaßte Studie über die Lebensqualität in 15 OECD-Mitgliedsstaaten, darunter auch Österreich. Das Schwergewicht dieser Untersuchung wurde auf den Sammelbegriff „Leben und Gesundheit” gelegt und vereinigt so unterschiedliche Angaben wie Lebenserwartung, überhöhter Kalorienverbrauch, Anzahl der Ärzte im Verhältnis zur Einwohnerzahl, Kindersterblichkeit, Arbeits- und Verkehrsunfälle sowie Mord und Totschlag. In das Modell einbezogen wurden die folgenden 15 Staaten: Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, USA, Japan, Kanada, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz.

Österreich als Schlußlicht

Um die wichtigsten Aussagen dieser Studie gleich vorwegzunehmen: „Schon eine einfache Reihung der einzelnen Länder nach günstigsten und ungünstigsten Ergebnissen”, so Lore Scheer, „auf Grund von Vergleichen und statistischen Zahlen läßt Österreichs schwache Position ersehen”: Unter 25 Indikatoren zum Lebensniveau scheint Österreich zweimal als Schlußlicht auf: Es verzeichnet die höchste Zahl von Verkehrstoten, umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung, und die höchste Zahl von tödlichen Arbeitsunfällen in der verarbeitenden Industrie. Österreich belegt vorletzte und vorvorletzte Positionen etwa in den folgenden Disziplinen: Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Mord und Totschlag, Wohnverhältnisse.

Spitzenreiter ist Österreich nur bei der Anzahl der Ärzte im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Gewichtet man die Positionen der an diesem „Le- bensqualitäts”-Vergleich teilnehmenden Staaten, so belegt Österreich vor Finnland und Italien den drittletzten Rang. An erster Stelle steht Schweden, gefolgt von der Schweiz, Norwegen und den USA.

Lore Scheer, sie ist Referentin der Wiener Arbeiterkammer, kommentiert dieses ungünstige Ergebnis mit starkem Fatalismus: „Wenn Österreich dennoch den 13. Platz halten konnte, so ist auch dies ein Erfolg, denn es erweist sich, daß in Österreich zumindest nicht weniger geschehen ist als in der Mehrzahl der anderen Länder.”

Offensichtlich deprimiert, fragt Lore Scheer: „Ob das aber ausreicht”? Diese Frage ist nur zu berechtigt angesichts der Tatsache, daß den Österreichern nun schon seit sieben Jahren eingehämmert wird, daß sie sich im internationalen Wohlstandswettbewerb auf der Überholspur befänden, auf einer „Insel der Seligen” lebten. Lore Scheers internationaler Lebensqualitätsvergleich widerlegt diese Behauptung eindrucksvoll, weist nach, daß eine Fahrt auf der Überholspur noch lange nichts über das Tempo des Fortschritts und der Wohlstandsmehrung aussagt.

Geringe Lebenserwartung

Gesundheit und Wohlbefinden sind grundlegende Voraussetzungen und Bestandteil guter Lebensqualität. Sozialindikatoren beschreiben die Volksgesundheit im allgemeinen mit der Lebenserwartung, der Zahl der Ärzte und der Spitalsbetten oder negativ durch die Prozentzahl der Unfälle, der Erkrankungen, der Mortalität.

In Österreich ist die Lebenserwartung für neugeborene Buben (66,6 Jahre) und Mädchen (73,7 Jahre) niedrig im Vergleich zu anderen OECD- Staaten. Am höchsten ist die Lebenserwartung in Schweden (neugeborene Buben werden im Durchschnitt 71,9 Jahre alt) und in Norwegen (neugeborene Mädchen werden 77,1 Jahre alt), am geringsten ist sie in Finnland und in Japan.

Für die Gesundheit sind Art und Ausmaß der Ernährung von größter Bedeutung: In Österreich werden weniger Kohlehydrate (Kartoffeln, Getreideprodukte) konsumiert, der Fleischverbrauch und damit die Aufnahme an tierischem Eiweiß steigt, der Milchkonsum fällt, der Zuckerkonsum steigt. Überdies - und dies dürfte sich sehr gesundheitsschädlich auswirken - steigt der Fettanteil in der Nahrung des Österreichers.

In Österreich entfallen auf 100.000 Einwohner 197 Ärzte - dies ist noch vor Italien die günstigste Relation unter den 15 erfaßten Mitgliedsstaaten. Am schlechtesten ist diese Relation in Japan und in Finnland (116 bzw. 118 Ärzte pro 100.000 Einwohner).

In Österreich sterben jährlich rund 2300 Kinder im ersten Lebensjahr, davon etwa 1700 im ersten Lebensmonat. In Schweden ist die Kindersterblichkeit mit 9,9 Gestorbenen je 1000 Lebendgeborenen am geringsten, in Österreich liegt sie bei 23,8 Gestorbenen je 1000 Lebendgeborenen, nur geringfügig günstiger als in Italien.

Mord und Totschlag sind ein brauchbarer Indikator, die Sicherheit der Menschen zu messen. Erstaunlicherweise ist die Rate der Todesopfer von Gewaltverbrechen in Österreich nach den USA, Finnland und Kanada am höchsten unter den 15 erfaßten OECD-Mitgliedsstaaten. In den USA wurden 1974 je eine Mülion Einwohner 97 Gewaltverbrechen verübt, in Österreich waren es 15 und in Norwegen und in den Niederlanden nur je 8.

Unsicherheit herrscht auch auf Österreichs Straßen: Jährlich sterben hier rund 2000 Menschen an den Folgen von Verkehrsunfällen, das entspricht einer Anzahl von 30 Verkehrstoten pro 100.000 Einwohner im Jahr.

33 Prozent des privaten Konsums entfallen in Österreich auf Aufwendungen für Nahrungs- und Genußmittel. Nur die Finnen und die Italiener wenden für Nahrungs- und Genußmittel mehr auf, die Amerikaner mit einem Anteil von 18 Prozent dagegen am wenigsten.

Hinsichtlich der Anzahl von Personenkraftwagen, Telephonansehlüssen und TV-Geräten pro 1000 Einwohner liegt Österreich generell im unteren Drittel der erfaßten 15 OECD-Mitgliedsstaaten. An der Spitze stehen in allen drei Bereichen die USA vor Schweden.

Mehr fürs Essen als fürs Wohnen

In Österreich leben 0,9 Personen pro Wohnraum, etwas weniger als in Finnland und in Japan, doch bedeutend mehr als in Belgien, Dänemark, Großbritannien, Kanada, Schweiz und USA. In einigen Ländern (BRD, Dänemark, Großbritannien, Schweiz und USA) haben 98 bis 99 Prozent aller Wohnungen Wasser innen; in Österreich sind es nur 84 Prozent. In den USA haben 94 Prozent aller Wohnungen ein Badezimmer, in Kanada 92 Prozent, in Schweden 84 Prozent, in der Schweiz 83 Prozent, in der Bundesrepublik Deutschland 68 und in Österreich nur 55 Prozent.

Lebensqualität, so bedeuten Soziologen, Ökonomen und Politiker, ist mehr als Lebensstandard. Sie ist eine Bereicherung des Lebens über Einkommen und Konsum hinaus. Doch die Sache mit der Lebensqualität hat auch ihre Tücken. Im besonderen Fall ist es die Verzahnung von Glück und Technologie, die Probleme schafft.

Sie stellt die Vorkämpfer für eine Verbesserung der Lebensqualität vor eine unangenehme Alternative: Entweder streben sie jene materielle Qualität des Lebens an, die den Wählern in allen Parteiprogrammen versprochen wird: Mehr Kindergärten, Schwimmbäder, Autobahnen, Spitäler, komfortable Krankenzimmer, höhere Renten, saubere Städte usw. Soll das alles bezahlt werden, müßte weit mehr gearbeitet werden, müßten die Schlote statt weniger mehr in den Himmel qualmen. Denn mehr Wohlstand ist nur durch mehr Arbeit zu erkaufen. Und eine optimale materielle Versorgung aller würde zugleich auch ein neues Menschenbild verlangen. Denn wer bei Büdungs- und Chancengleichheit den Dreck seiner Mitmenschen wegwischen sollte, müßte dafür entlohnt werden wie heutzutage hochbezahlte Spezialisten. Oder aber die Bevölkerung in den Industriestaaten orientiert sich auf der Suche nach der Lebensqualität an der Bescheidenheit: weniger Arbeit, weniger Genuß, frühere Pensionierung, Abschaffung der Leistungsgesellschaft und der seelenlosen Fließbänder - kurz: zurück zu den einfachen Freuden der Natur. Dann aber bedeutet mehr Lebensqualität den Abschied vom Wohlstand.

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