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Immer mehr Armut

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Wachstum, das nicht der Bevölkerung zugute kommt, kritisiert der neue UN-Bericht. Elementare Gesundheitsversorgung und Bildung fehlen mehr Menschen als angenommen ...

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Wachstum, das nicht der Bevölkerung zugute kommt, kritisiert der neue UN-Bericht. Elementare Gesundheitsversorgung und Bildung fehlen mehr Menschen als angenommen ...

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Die wirtschaftliche Polarisierung der Welt wird immer stärker, innerhalb von Ländern ebenso wie zwischen ihnen.” James Gustave Speth, Chef des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), Verzichtet auf diplomatische Umschweife. In 70 Entwicklungsländern liege das Einkommensniveau heute sogar niedriger als in den sechziger und siebziger Jahren. Unter 89 Staaten, denen es heute wirtschaftlich schlechter geht als vor zehn Jahren, fänden sich mit Finnland, Island und Kanada gerade drei Industrieländer.

„Wenn die derzeitigen Trends anhalten”, so der UNDP-Boß anläßlich der weltweiten Präsentation des „Human Development Report 1996”, „wird das wirtschaftliche Gefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern Ausmaße annehmen, die nicht nur ungerecht, sondern unmenschlich sind.”

Hinter dem Befund, der wie ein Gemeinplatz klingt, stehen internationale Studien und Statistiken, eigene Berechnungen und Erhebungen des Autoren-Teams sowie das Herzstück des Reports, der Human Development Index. Diese Kombination von gewichteten Pro-Kopf-Einkommen, Rrutto-Einschulungsquote und Lebenserwartung ergibt eine Rewertung nach mehrheitlich sozialen Kriterien.

Diese nicht rein pekuniäre Perspektive bringt überraschende Einsichten. So erreicht etwa Neuseeland mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 12.600 US-Dollar eine ähnliche menschliche Entwicklung wie die Schweiz mit 35.760 Dollars. Macht. Rang 14 beziehungsweise 15 unter 174 Ländern mit Kanada, den USA und Japan an der Spitze. Osterreich rangiert dank hoher Lebenserwartung heuer auf Rang 13, einen Platz besser als im Vorjahr.

Wird zusätzlich die gröbere Renachteilung von Frauen einberechnet, dominieren nordeuropäische Staaten die ersten Ränge mit Schweden auf Platz eins. Am Ende beider Skalen rangieren wie schon 1995 vor allem afrikanische Staaten.

Der aktuelle „Rericht über die menschliche Entwicklung” geißelt besonders die positive Konjunktur ohne neue Jobs als „falsches” Wachstum. Eine Untersuchung von 69 Ländern über zehn Jahre zeigt, daß nur 27 von 46 Staaten (darunter mehrere ostasiatische) durch Wachstum auch mehi Jobchancen boten. Eklatantes Gegen beispiel: Pakistan. Durch Kanalisie rung der Ressourcen in kapitalintensi ve Industriezweige wie Chemie, Eiser und Stahl zu Lasten kleinerer, arbeitsintensiver gewerblicher Produktion und Landwirtschaft ging die Reschäf-tigung trotz fünf Prozent Wachstum in den Achtzigern zurück. Nach seinem Einkommen gilt jeder dritte Pakistani als „arm”. Dabei ist dieser statistische Wert bestenfalls die halbe Wahrheit.

Im Kampf gegen Armut - laut UNDP-Europa-Direktor Alan Doss ein Hauptanliegen seines Programms - bringt der diesjährige Entwicklungsbericht ein Rechenmodell, das weitere Armutsaspekte abseits von Einkommen transparent machen soll.

Das neue Maß hört auf den Namen „Capability Poverty Measure” und soll den Prozentsatz an Menschen erfassen, deelementare Bildungs- und Ge-sundheits-”Befähi-gungen” gänzlich fehlen. Die Kriterien dazu: der Anteil an untergewichtigen Kindern unter fünf Jahren, an Geburten ohne ausgebildete Assistenz und die Rate weiblicher Analphabeten.

Für Pakistan ergibt das 61 Prozent Arme oder fast doppelt soviele wie bei ausschließlicher Betrachtung des Einkommens. In den Entwicklungsländern leiden im Schnitt 57 Prozent unter der Armut an Befähigungen, gegenüber 21 Prozent Menschen bei rein monetärer Sicht.

So neu die Darstellung und so alarmierend die Polarisierung zwischen

Arm und Reich auch sind, die vorgeschlagenen Gegenstrategien klingen vertraut: Länder mit geringer menschlicher Entwicklung sollten ihre Mittel, statt ins Militär, in Schulen und Ausbildung stecken; die reichen Staaten sollten Schuldnerländern mit hoher Arbeitslosigkeit durch „Umwandlung” der Kredite beschäftigungswirksame Investitionen ermöglichen.

Ein weiterer Vorschlag: Industriestaaten mögen 20 Prozent ihrer Entwicklungszahlungen für Rasisdienste zweckwidmen: Grundschule, Gesundheitsversorgung, Familienplanung, sichere Trinkwasser und Ernährungsprogramme. Entwicklungsländer sollten im Gegenzug dasselbe mit ihren nationalen Budgets tun. Diese 20:20-Formel liegt seit dem „Sozialgipfel” in Kopenhagen vor. Allein die Besonanz fehlt.

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