Die ärmsten Reichen

19451960198020002020

Doppelte Überraschung im neuen UN-Entwicklungsbericht: Die Industrieländer haben ein größeres Armutsproblem als angenommen. Und: Einkommen bestimmt nicht, wie arm man ist.

19451960198020002020

Doppelte Überraschung im neuen UN-Entwicklungsbericht: Die Industrieländer haben ein größeres Armutsproblem als angenommen. Und: Einkommen bestimmt nicht, wie arm man ist.

Werbung
Werbung
Werbung

Hundert Millionen Menschen in der industrialisierten Welt haben kein Dach über dem Kopf. Nur zwei von 17 hochentwickelten Staaten haben weniger als zehn Prozent Arme. Und: Just das Land mit der größten Wirtschaftsleistung pro Kopf, die USA, hat die meisten Armen - Schlußlicht der Industrieländer.

Drei Daten aus dem heurigen "Bericht über die menschliche Entwicklung", der sich diesmal auf Fragen rund um Konsum konzentriert. Seit 1990 läßt das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) Dutzende Experten über Monate die menschliche Seite von (Unter-)Entwicklung analysieren und sichtbar machen. Sein Index der menschlichen Entwicklung (HDI) wurde zum Gradmesser für Wohlfahrt und Wirtschaftsleistung in Entwicklungsländern, erfaßt er doch neben Pro-Kopf-Wertschöpfung auch Lebenserwartung und Bildungschancen.

Sieger Schweden Heuer hält UNDP mit einem neuen Armutsindex für Industrienationen auch den reichen Ländern, traditionell auf den ersten 20 HDI-Plätzen, einen wenig schmeichelhaften Spiegel vor. Kanada, auch 1998 wieder an der Spitze des HDI, sackt im Armutsindex auf Rang zehn ab: Jeder Achte ist demnach in dem nordamerikanischen Land arm. Dem HDI-Zweitplazierten Frankreich stellt der Armutsindex kaum ein besseres Zeugnis aus. Deutschland, im HDI auf Rang 19 etwas hinter Österreich (Rang 13) und der Schweiz (Rang 16), kommt unter den 17 nach Armut gereihten Industrieländern immerhin auf den dritten Platz, davor Niederlande und Schweden. (Österreich und andere kleinere Industriestaaten wurden für den Armutsindex vorerst nicht erfaßt.)

Wie kommt nun UNDP zu dieser Reihung? Das Armutsranking baut auf der Erkenntnis auf, daß nicht nur arm ist, wer zuwenig Geld hat. Daher erfaßt der neue Index neben dem Mangel an Einkommen auch jenen an Überlebenschancen, an Bildung sowie die soziale Ausgrenzung. Für Letzteres zogen die Experten den Anteil an Langzeitarbeitslosen heran, also einer Bevölkerungsgruppe, die mit dem Ausscheiden aus der Arbeitswelt oft von sozialen Kontakten ausgeschlossen bleibt. Unangefochtener Spitzenreiter hier: Spanien mit 13 Prozent. Noch trister die für den Index nicht eigens ausgewertete Jugendarbeitslosigkeit: schwindelerregende 36 Prozent der jungen Iberer, bei den Frauen fast die Hälfte.

Unter "Mangelnde Überlebenschancen" sind Menschen erfaßt, die wahrscheinlich nicht älter als 60 Jahre werden, OECD-weit 200 (!) Millionen. In Deutschland muß jeder Neunte mit einem frühen Ende rechnen, in Schweden nur jeder Elfte.

"Mangel an Bildung" macht der Index am Anteil sogenannter funktionaler Analphabeten fest - das sind Menschen, die für die Anforderungen einer modernen Gesellschaft schlicht zu schlecht lesen oder schreiben; die etwa bei der Lektüre einer Medikamentenverpackung oder beim Vorlesen eines Kindermärchens Probleme bekommen: in der Bundesrepublik jeder Siebte.

Den respektablen dritten Platz im Armutsindex schafft der große Nachbar dank eines relativ geringen Bevölkerungsteils mit Einkünften unter der Armutsgrenze (5,9 Prozent). Bei der Definition dieser sogenannten Einkommensarmut folgt UNDP der Europäischen Union. Statt einer für verschiedene (Konsum-)Kulturen problematischen Liste "unverzichtbarer" Güter wurden 50 Prozent des mittleren, individuell verfügbaren Einkommens in einem Land herangezogen. Allein nach diesem Kriterium leben in den OECD-Staaten 100 Millionen Arme. Davon betroffen: jedes zwölfte Kind, darunter über die Hälfte der Mädchen und Buben von Alleinerziehern in Australien, Kanada, Großbritannien und den USA.

Die hohe Einkommensarmut ist auch einer der Gründe für die hohe Armut in den Vereinigten Staaten. Zwar brilliert die Wirtschaftsmacht mit "nur" 0,5 Prozent "sozial Ausgegrenzten", zumindest nach dem Kriterium Langzeitarbeitslose, bietet aber über 19 Prozent der Bevölkerung zum Leben zuwenig Einkommen, Stichwort junk jobs. Mit 13 von hundert Menschen, die nicht älter als 60 werden dürften, hinkt das Land auch bei den Überlebenschancen hinterdrein. Macht mit über 20 Prozent funktionalen Analphabeten den letzten Platz im Armutsindex. Jeder sechste Ami ist arm.

"Das Ausmaß menschlicher Armut", resümiert der Report, "hat mit dem Einkommensniveau relativ wenig zu tun." Das belegt auch ein Blick auf Schweden, das Industrieland mit dem niedrigsten Armenanteil (6,8 Prozent): Die Skandinavier schaffen den Platz an der Spitze mit nur Rang 13 beim statistischen Durchschnittseinkommen.

Falsche Verteilung Der neue Index zeigt drastisch, was frühere Berichte für Entwicklungsländer belegen konnten: Armut ist falsch verteilter Reichtum. Wie sonst könnten Länder mit vergleichbarem Durchschnittseinkommen so unterschiedliche Armenheere hervorbringen? In den Niederlanden gehört jeder Zwölfte dazu, in Großbritannien fast schon jeder Sechste.

UNDP-Chef Gustave Speth bringt die Aussage des Berichts auch für Industriestaaten auf den Punkt: "Der Konsumzuwachs hat den Menschen auf der Welt enorm genützt, aber nicht alle sind zur Party eingeladen."

Der UNDP-Bericht ist bei der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen um DM 42,- zu beziehen: Dag-Hammarskjöld-Haus, Poppelsdorfer Allee 55, D-53115 Bonn; Tel. 0049/228/949000; Fax 0049/228/217492

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung