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Auf der Überholspur

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Im Frühjahr des vergangenen Jahres konstituierte sich in Wien die „Arbeitsgemeinschaft für Lebensniveauvergleiche“. In der ersten Broschüre der Schriftenreihe veröffentlichte Dr. Anton Kausei vom Institut für Wirtschaftsforschung eine Studie über das materielle Leistungs- und Lebensniveau. Dieses wird im realen Bruttonationalprodukt je Einwohner sichtbar. Ganz konkret wurde also die Frage gestellt: Wo steht der Österreicher heute im internationalen Einkommens- und Leistungsvergleich?

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Im Frühjahr des vergangenen Jahres konstituierte sich in Wien die „Arbeitsgemeinschaft für Lebensniveauvergleiche“. In der ersten Broschüre der Schriftenreihe veröffentlichte Dr. Anton Kausei vom Institut für Wirtschaftsforschung eine Studie über das materielle Leistungs- und Lebensniveau. Dieses wird im realen Bruttonationalprodukt je Einwohner sichtbar. Ganz konkret wurde also die Frage gestellt: Wo steht der Österreicher heute im internationalen Einkommens- und Leistungsvergleich?

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Die „Größe“ der kleinen Alpen-repuihldk ist der primäre Grund, weshalb Österreich last nie in solch Untersuchungen mit einbezoger wurde. Wenn es dennoch geschah, so unter der primitiven Notlösung, sich für internationale Einkammensver-gleiche der offiziellen Währungskurse zu bedienen. Äußerst selten koordinieren Währungsparität und tatsächliche Kaufkraft. Nicht einmaO bei benachbarten Staaten. Österreich und Deutischland gehen Beispiel dafür: Hier der unterbewertete Alpendollar. Dort die überbewertete D-Mark. Noch krasser scheint den Unterschied zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern Den Inder hält der (durchschnittliche) Monatsverdienst von 9 Dollai über dem Existenzminimum. In Delhi kann er damit 30 Tage wohnen, sich kleiden und nähren.

Tatsächlicher Niveauvergleich

Der erste Versuch in Richtung eines unverfälschten Niveauvergleichs neun führender Nationen wurde vor 17 Jahren von Gilbert und Kravis durchgeführt.

Leider fehlten in dieser Studie Österreich und die Schweiz. Nur für Schweden und Japan errechnete man 1960 die tatsächlichen Kaufkraftparitäten. Der Initiative des Autors ist es zu verdanken, daß nun auch Österreich, die Schweiz und die östliche Fühnumgisrnacht, die Sowjetunion, in den Niveau- und Wachs- 2

;umsvergleich einbezogen werden j -tonnten.

Die Studie geht von der Annahme i aus, das reale Bruttonationalprodukt

Das Wirtschaftswachstum der

Österreichs sei gleich 100. Die Palette des Jahres 1970 der vierzehn unitersuchten Staaten reicht von den USA (164) und Schweden (128) bis Italien (75) und der UdSSR (63). Österreich liegt heute im goldenen Mittelfeld. Gemessen an seinem ökonomischen Reifegrad und seinem Pro-Kopf-Produkt.

Der absolute Favorit des absoluten Niveauvergleichs sind seit dem Jahr 1860 die USA. Also seilt mehr als 100 Jahren. Dennoch kann man auch hier einen amerikanischen Wellenberg erkennen: 1938 bis 1950 erreich-te das in den Krieg gezogene Land einen einsamen Höhepunkt. 1955 besaßen die USA Österreich gegenüber einen Vorsprung von 190 Prozent. Heute hat der ausdauernde Alpenländer schon mehr als 60 Prozent des US-Niveaus erreicht. Dabei bleibt es aber nach der Hochrechnung nicht. Jährlich gewinnt Österreich zwei bis drei Prozentpunkte dazu.

Einen profunderen Einblick in die ökonomischen Reifungsprozesse gewährt die langfristige Wachstumsanalyse. 110 Jahre vermitteln ein scharf konturiertes Bild der tatsächlichen Kräfteverhältnisse. Nach wie vor bilden auch hier die Vereinigten Staaten die einsame Spitze. Auch für die Zukunft. Die sowjetische Planwirtschaft hinkt sogar hinter den Spree- und Moldaugenossen nach. Das Wachstum des kommunistischen Mutterlandes erreicht gerade noch den emporsteigenden Ast der EWG oder Österreichs.

Noch düsterer, noch hoffnungsloser scheint die Situation des einst mächtigsten Wirtschaftslandes. Vor hundert Jahren galt das individuelle Volik jenseits des Kanals gemeinsam mit den kolonienschweren Niederlanden als reichstes Land des Erdballs. Die wirtschaftliche Schlacht war aber schon damals geschlagen. Und verloren. Schwerstes Geschütz gegen die eigenen Fabriksmauern war die Abkapselung vom Kontinent. Um 1900 überrundeten die USA die einst führende Wirtschaftemacht England; 1930 gelang es der Schweiz; 1940 den Schweden; 1960 den Deutschen und den Dänen. 1965 dem ewigen Erbfeind Frankreich. 1970 schaffte es Holland; und Österreich.

Neutrale und Österreich

Die Wogen zweier Weltkriege prallten von den Grenzen der Neutralen zurück. So konnten sich Schweden und die Schweiz zum europäischen Niveau emporschwingen. Vor der Jahrhundertwende war Schweden sogar weit unter dem österreichisch-ungarischen Lebensniveau zurück. Am Bild Österreichs spiegelt sich Tragik und Chaos wider. Um 1860 erreichte Österreich kaum die Hälfte des westeuropäischen Enf-wicklungsstandards. Die erste entscheidende Indiustrialisierungswedle ging an der alten Monarchie in echt österreichischer Unbeküimimertheit vorbei. Erst die zweite machte das Vermißte wett. Vor dem Beginn des ersten Weltkrieges gab es kaum eine Nation, deren Sprosse der Österreicher nicht erklimmen konnte. Ob Unwissenheit oder Klaiinmütigkeit — der typische österreichische Minderwertigkeitskomplex schwieg diesen steilen Aufschwung tot. Den Rest besorgten die Gewitterwolken über dem Doppeladler, die Kleingläubigkeit des verbleibenden Reststaates, die Geschwulst der Weltwirtschaftskrise und last not leaist der zweite große Krieg.

In den Jahren des „Dritten Mannes“ stand das viergeteilte Österreich nicht viel ärmer da als vor der epochalen Rirugstraßenära des großen alten Kaisers. Von diesen Höhen blieb lediglich die verschüttete Dynamik. Aber seit 1950 wächst das Bruttoniationalpradiukt pro Kopf und Jähr um etwa 5 Prozent. Österreich befindet sich auf der Uberholspur. Nur noch der Senkrechtstarter Japan und die Sowjetunion sind vor der einst so zweifelnden Alpenrepublik.

Es genügt nicht, allein von der österreichischen Überholspur und der guten rotweißroten Placierung zu sprechen. Worin liegt das Wunder des österreichischen Wirtschaftswunders?

Nicht zuletzt und nicht unwesentlich muß sich die Frage nach dem sozio-ökonomischen Background dieser Entwicklung stellen. Auch darauf hat die Arbeitsgemeinschaft eine Antwort gefunden: es scheint, eine sehr treffende; denn da ist die Rede vom Menschlichen, vom spezifisch österreichischen im Österreicher. Von den Wachstumsreserven, die andere Nationen schon früher ausgeschöpft haben.

Geboren aus einer bisher relativen Rückständigkeit auf manchen Gebieten ertaubt der österreichische Cha-rakterzuig heute ausländische Erfahrungen optimal anzuwenden — ohne entwictoiungsnotwendige Enttäuschung, ohne ökonomische Frustration einer Fehlinvestition.

Da ist auch die Rede von der hohen Sparneigung des Österreichers, der günstigen Relation zwischen Lohnexpansion und Produktivitätssteigerung und von der nasch anwachsenden Kapitalkraift.

Es fällt nicht schwer, für das Jahr 1972 die gleiche Tendenz des vorhin Gesagten zu prophezeien. Der Auf-holprozeß scheint weiterzugehen. Es sei denn, er werde gestoppt durch Ereignisse von weltpolitischer Tragweite oder durch das Versagen der eigenen Wirtschaftspolitik...

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