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Der Massey-Report

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Der Verlag Edmond Cloutier, „Printer to the King’s Most Excellent Majesty“, das heißt die kanadische Staatsdruckerei, veröffentlichte vor kurzer Zeit ein bemerkenswertes Dokument. Sein Gegenstand sind die kulturellen Bestrebungen und Leistungen in Kanada, dem drittgrößten Land nach Rußland und China; sein Inhalt ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse aller Untersuchungen, die von der Königlichen Kommission zur Förderung der Künste und Wissenschaften während der letzten zwei Jahre angestell’t worden sind. Die Einsetzung dieser Kommission durch den Statthalter des englischen Königs, Generalgouvemeur Viscount Alexander von Tunis, erfolgte auf Grund einer Anregung des kanadischen Premierministers Louis S. St.-Laurent und basierte auf der allgemeinen Erkenntnis, daß das Fehlen einer nationalen Kultur der bedenklichste und für die Zukunft Kanadas folgenschwerste Mangel sei. Denn nur auf dem Boden der Kultur könne ein Volk in der Gegenwart Größe ent? wickeln und historisch überdauern.

Die Kommission bestand aus fünf Personen, angesehenen Fachleuten, Repräsentanten des kanadischen Geisteslebens, Träger vieler Titel und Würden; an der Spitze Vincent Massey, Rektor der Universität Toronto, von dem der „Rapport“ den Namen erhalten hat. Bei ihrem ersten Zusammentreten ernannten diese fünf Experten vier Subkommissionen, die mit kanadischer Gründlichkeit und kanadischem Tempo ans Werk gingen.

Innerhalb von kaum mehr als zwei Jahren reisten die Kommissionsmitglieder fast 15.000 Kilometer und hielten in sechzehn Städten der zehn Landesprovinzen 224 Beratungen ab, in deren Verlauf 462 Gutachten sämtlicher nennenswerten privaten und offiziellen Kulturorganisationen von so verschiedener Richtung, wie die Canadian Catholic Conference und der Ballet Appreciation Club entgegengenommen und verarbeitet sowie 1200 Zeugen gehört wurden. Schließlich verfaßte die Kommission den Bericht: zwei Teile, 25 Kapitel, 10 besondere Beiträge, 13 Ergänzungsabschnitte und den Index, insgesamt 517 stattliche Druckseiten,

Im ersten Kapitel wird das Mandat der Kommission begründet und ihr prinzipieller Standpunkt in wesentlichen Fragen bekanntgegeben. Vor allem wird festgestellt, daß ihr nichts ferner lag, als der Wille zu richten, das heißt Urteile über „gut“ und „schlecht“ in der Kunst zu fällen. Das künstlerische Schaffen müsse sich völlig frei entfalten und der Geschmack des Publikums sich frei entwickeln. Ihre Aufgabe sei es daher nur, Mittel und Wege aufzuzeigen, um die breiteste Öffentlichkeit mit dem verschiedenartigsten Kunstschaffen vertraut zu machen. Ähnlich dem Kunstgeschmack gehöre auch die Erziehung vor allem in den Bereich persönlicher Verantwortung. Da in Kanada bezüglich der kulturellen und erzieherischen Betätigung keine Beschränkungen herrschen, sei auch die Tätigkeit der Bundesregierung oder anderer Behörden und Ämter auf dem Gebiet des Rundfunks, Films, der Museen, Bibliotheken, Forschungen und ähnlichem zulässig.

Im zweiten Kapitel des Massey-Reports werden die Probleme behandelt, die durch die geographischen Gegebenheiten des Landes entstehen. In Kanada leben 14 Millionen Menschen ungleichmäßig verteilt über eine Fläche von 9,3 Millionen Quadratkilometer. Die nördlichen Zonen, die bis in die Arktis reichen, sind nahezu unbewohnt. Im Westen wird der breite, bevölkerte Küstenstrich Britisch- Kolunjbien durch die mächtige Kette der Rocky Mountains vom Mitteigebiet, den Weizen- und Prairieprovinzen Alberta, Saskatchewan und Manitoba mit ihren zahllosen kleinen Ortschaften, Dörfern und Siedlungen, getrennt. Im Osten leben die Bewohner fast ausschließlich in der Nähe der atlantischen Küsten oder am Ufer des St.-Lorenz-Golfs. Im Süden aber, besonders entlang der amerikanischen Grenze, in den Provinzen Ontario und Quebec, liegt ein Streifen dichtesten Siedlungsgebiets. Es gibt im ganzen Land nur sechs Städte mit mehr als 150.000 Bewohnern und nur eine einzige Stadt, Montreal, mit mehr als einer Million. Diese Tatsachen machen das Problem der Verbreitung von Kunst und Wissen großenteils zu einem Transportproblem. Es gibt auch kaum eine Bibliothek ohne ausgedehnte Versandabteilung und kaum ein Museum, das eine der unerläßlichen Ausstellungen in der Provinz ohne Hini Zuziehung eines Transportexperten plant. Ein noch schwierigeres Problem bei der Förderung der Kulturentwicklung in Kanada ist jedoch die unmittelbare Nachbarschaft der Vereinigten Staaten.

Wohl wird im Massey-Report dankbar anerkannt, wieviel Kanada gerade auf kulturellem Gebiet den Vereinigten Staaten verdankt. Doch der Report ver hehlt auch nicht die Gefahr für die Unabhängigkeit der kulturellen Entwicklung in Kanada, die darin liegt, daß zum Beispiel kanadische Studenten allzu häufig Stipendien an amerikanischen Universitäten gewinnen, kanadische Lehrer fast ausnahmslos ihre berufliche Fortbildung in amerikanischen Seminaren bekommen, die Lehrmittel der kanadischen Schulen größtenteils aus den Vereinigten Staaten bezogen werden und der kanadische Markt mit amerikanischen Büchern und Filmen überschwemmt ist.

Denį Fragen, wie diesen beiden Pro- Hamen —Entfernungen und die geistige Überfremdung beziehungsweise Abhängigkeit — begegnet werden könne, sind die andern Kapitel des Reports gewidmet.

Die erste Stelle kommt dabei natürlich dem Rundfunk zu, der am wenigsten ortsgebunden ist, 90 Prozent der Bevölkerung erreicht und durch das Havannaabkommen von 1937 eine sichere Stellung im nordamerikanischen Luftraum erhielt. Das Sendenetz wird durch 19 staatliche, 21 vom Staat kontrollierte und 56 private Stationen bedient, und es bedarf kaum der Erwähnung, wieviel der Schulfunk und Programme, wie „Ideen im Vormarsch“, „Elternstunde“, „Radiouniversität“ oder die Sendungen „Für Bürger und Bauern“ zur kulturellen Entwicklung beitragen. In Kanada fällt überdies dem Rundfunk die Rolle des Kunstmäzens zu, denn ohne seine Aufträge könnten sich nur sehr wenige der heimischen Schriftsteller, Komponisten, Dramatiker, Musiker und Schauspieler halten.

Von kaum geringerer Bedeutung als der Rundfunk ist die Filmindustrie. Dem Auftrag der Kommission entsprechend, ist im Rapport nur vom organisatorischen Aufbau und den Aktivitäten der staatlichen Institutionen die Rede: National Film Board und Canadian Film Institute. Eine private kanadische Filmindustrie gibt es erst seit 1943, und sie hat, aus einer ganzen Reihe von Gründen, noch keine eigene Richtung gefunden.

In diesem ersten Teil des Berichts beschränkte sich die Kommission darauf, das Ergebnis der Untersuchungen über die Lage auf den verschiedenen kulturellen Gebieten zusammenzufassen und die Kritik, die Anregungen, Pläne und Vorschläge zu veröffentlichen, die ihr im Zuge der Beratungen von den Kulturinstitutionen, privaten Verbänden, Ex-Werten und nicht zuletzt von einfachen Leuten aus dem Publikum unterbreitet wurden. Im zweiten, wesentlich kürzeren Teil gab sie ihre eigenen Kommentare und Vorschläge bekannt, wobei die Ansicht des Kommissionsmitglieds Ing. Surveyor, soweit sie sich von den Ansichten der Mehrheit unterschied, in einem Sonderkapitel behandelt wurde. Getreu ihrem anfangs erwähnten Grundsatz legte die Kommission das Schwergewicht ihrer Empfehlungen auf die Erhöhung oder Verleihung staatlicher Subventionen, wodurch die kulturschaffen- den Organisationen oder Personen größere Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit erhalten und die Schaffung neuer kultureller Einrichtungen möglich gemacht würden. Bewährte Organisationen, wie zum Beispiel der National Film Board, sollten weiterhin ausgebaut werden und ihr bisheriges Wirken fortsetzen, die private Initiative ermutigen und unterstützen. überhaupt müßte die Zusammenarbeit von offiziellen und privaten Stellen nach Möglichkeit gefördert werden. Der Bundesregierung wird wie bisher das alleinige Recht zur Erteilung von Rundfunkkonzessionen zugewiesen, keine private Sendegesellschaft dürfe sich ohne Einwilligung der offiziellen Canadian Broadcasting Corporation einem Rundfunknetz anschließen. Die Nationalgalerie möge die Zahl der Wanderausstellungen und Publikationen vergrößern und den Kontakt mit der Bevölkerung durch die Veranstaltung von Vorträgen und Filmvorführungen verstärken. Das National Museum of Canada müsse in ein Canadian Museum of Natural History umgewandelt und ein neues Canadian Historical Museum sowie ein Canadian Museum of Science gegründet werden. In Ottawa, der Bundeshauptstadt, sollen ein botanischer und zoologischer Garten eingerichtet werden. Die Parlamentsbibliothek möge reorganisiert und die Schaffung einer Nationalbücherei unverzüglich begonnen werden. Die Universitäten müßten großzügig subventioniert und die Zahl der Stipendien bedeutend erhöht werden. Im diplomatischen Dienst müßte eine größere Anzahl von Kulturattaches verwendet werden. Der letzte und zweifellos wesentlichste Vorschlag geht jedoch dahin, ein kanadisches Kulturamt zu gründen.

In Kanada hat der Massey-Report ungeheures Aufsehen erregt. Sowohl sein erster wie sein zweiter Teil werden in allen Kreisen und Schichten lebhaft diskutiert. Es gibt kaum ein Gespräch, das nicht von ihm ausgeht oder zumindest bei ihm endet. Er wirkt wie der Stein, der die Lawine ins Rollen bringt. Denn sein Erscheinen fällt in eine Zeit geistiger Unruhe, künstlerischen Ringens, idealistischen Sehnens und starker kultureller Aktivität. Jeder Kanadier aber spürte, daß aus bloßem Ringen und Streben keine nationale Kultur entstehen kann, und sah die Gefahr eines kulturellen Chaos als Folge der allzu vielen, nicht koordinierten .Betätigungen. Nun weist der Massey-Report die Richtung und zeigt auch die praktischen Wege, diese nationale Kultur zu schaffen und damit den Grundstein für eine Tradition zu legen.

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