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Zum Wohl, Genossen!

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Bis zum Ende des nächsten Jahres will Rumäniens Regierung mit drastischen Maßnahmen den Alkoholkonsum im Land beschränken. Uber 2000 Gasthäuser, Weinschenken und Büffets sollen „neue Aufgaben“ erhalten. In der Nähe von Betrieben, Instituten und Schulen sollen alle Wirtshäuser verschwinden. Als Ersatz bietet man den Trinkern Imbißstuben und Konditoreien an, in denen — Molkereiprodukte verkauft oder vegetarische Kost serviert wird.

In Bulgarien hat man ähnliche Maßnahmen bereits vor drei Jahren eingeleitet. Die Sperrstunden wurden generell um zwei Stunden vorverlegt, das Angebot harter Getränke künstlich verknappt, Rauchverbot und hohe Preise für Wodka wurden da und dort eingeführt, um die Bürger vom übermäßigen Suff abzuhalten. Das Ergebnis sieht in der Praxis allerdings anders aus, als es sich die Erfinder der Antialkoholkampagne gedacht hatten. In den wenigen verbliebenen Kneipen drängen sich heute bereits nach Feierabend — der fällt in ganz Osteuropa auf die Zeit zwischen 15 und 16 Uhr — Massen von durstigen Genossen. Binnen weniger Stunden sind die Schnapsrationen konsumiert, man begibt sich einige Stunden früher als einst, aber nicht weniger illuminiert, in die sozialistische Realität zurück.

In Polen wurde 1964 bereits ein eigenes Komitee zur Bekämpfung des Alkoholismus gegründet. Auf dem dritten Kongreß dieser Organisation, der im Sommer dieses Jahres stattfand, mußten die Protagonisten zugeben, das Trinken sei weiterhin eine „unausrottbare Seuche“.

Das „Trinken ä la Polonaise“ ist typisch für den gesamten Ostblock: „Wyborowa“- und „Zubrowka“-Fla-schen stehen auf Büroschreibtischen und neben Werkbänken, auf dem Nachttisch und in der Küche. Elf Prozent aller Krankmeldungen sind nach Angaben der Zeitung „Zolnierz Wolnosci“ auf exzessiven Alkoholgenuß zurückzuführen. Das Blatt schätzt den Produktionsausfall, bedingt durch zittrige Säuferhände, auf zehn Prozent, 18 Prozent aller Arbeitsunfälle hängen ebenfalls direkt damit zusammen, ebenso jeder vierte Verkehrsunfall.

Undiszipliniertheit, Arbeitsausfall (und damit Gewinnausfall für die Staatsbürokratie), Beschädigung „volkseigener“ Maschinen von Milliardenwert, also indirekte „Sabotage“, steigende Kriminalitätsraten plus Zerfall wichtiger Sozialstrukturen, wie der Familie, sind die Gründe, weshalb mit dem Einsatz aller Mittel, publizistischer wie strafrechtlicher Art, im Ostblock gegen den Dämon Alkohol vorgegangen wird.

Jeder Pole zwischen 18 und 60 Jahren nimmt im Durchschnitt 15 Liter reinen Alkohol pro Jahr zu sich. Zwei Millionen Alkoholkranke (bei einer Bevölkerung von 34 Millionen) sind von Behördenseite registriert. Sie füllen in Abständen die ohnehin unzureichenden Krankenhäuser und kosten den Staat in Rehabilitationsanstalten Millionenbeträge. Für seinen geliebten Wodka verzichtet der

Pole auch gerne auf das Essen. Vor fünf Jahren noch gab er 38,5 Prozent seines Monatseinkommens für Lebensmittel aus, 8,7 Prozent für Alkoholika; in diesem Jahre aber rund zehn Prozent für Schnaps und nur noch 35 Prozent für Eßwaren.

Da jedoch auch ein sozialistisches Gemeinwesen ungern auf Einnahmen aus dem Alkoholmonopol verzichtet, mußte das Parteiorgan „Tri-buna Ludu“ zur Kenntnis nehmen, es sei „im Interesse der Volkswirtschaft notwendig“, daß auch auf dem Alkoholsektor die Produktionsziffern steigen.

Hand in Hand mit dem häufigen Griff zur Flasche steigen die Selbstmordraten in den kommunistischen Staaten zu unvorstellbaren Größenordnungen. Die früheren Kernstaaten der Donaumonarchie, die Tschechoslowakei und Ungarn, sind dabei immer unter den ersten zehn in der traurigen Weltrangliste der WHO, der Weltgesundheitsorganisation der UNO, zu finden. Pro hunderttausend Einwohner der CSSR etwa registriert die Statistik 24,6 Selbstmorde, in Irland hingegen nur 1,8! Mehr als dreieinhalbtausend Tschechen und Slowaken bringen sich jedes Jahr selbst um, pro Tag zehn Selbstmorde... (Wobei allerdings angemerkt werden muß, daß zwei Drittel davon auf den tschechischen Landesteil entfallen, während sich die traditionelle katholische Dominanz in der Slowakei freitodhemmend auswirkt).

Alarmierend ist auch die Zunahme der Geisteskrankheiten: 1960 mußten 25.301 Patienten in die Anstalten eingewiesen werden, 1973 waren es schon 42.159 (laut „Statisticka Rocen-ka CSSR“). Das bedeutet eine Steigerung von 70 Prozent.

In Ungarn, wo auf 247.000 Hektar Land Wein angebaut wird, vom berühmten Tokayer bis zum Soproner Spätburgunder, ist man im negativen Sinne schon einen Schritt weiter gekommen. Westliche Einflüsse machen sich zwischen Donau und Theiß nicht nur in der größeren Eleganz der Kleidung in westlichem Lebensstil und Automobilen, sondern auch im Suchtgiftverhalten bemerkbar. Der Medikamentenmißbrauch hat dort durchaus internationales Format. Heute gibt der Magyare im Schnitt doppelt soviel für Beruhigungs- und Aufputschmittel aus wie vor zehn Jahren. Um die geschwächte Physis der Bürger wieder zu beleben, gaben die Gesundheitsbehörden Ungarns vor wenigen Wochen grünes Licht für den Import der chinesisch-koreanischen „Wunderwurzel“ Ginseng. Ab sofort ist die nach Meinung von Experten maximal als psychologisches „Placebo“ wirksame Wurzel in allen Herbarien-Geschäften Budapests erhältlich.

Findige Ungarn haben die Ginseng-Wurzel allerdings schon ma-gyarisiert: vier oder fünf Tage in Ba-rack oder Wodka abgelagert, so meinen sie, würde die Droge ihre potenzfördernde Wirkung vervielfachen. Nebenbei wird so der Kreis zum ältesten Suchtmittel der Menschheit wieder geschlossen.

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