7035380-1989_46_18.jpg
Digital In Arbeit

40.000 ohne Heimat

Werbung
Werbung
Werbung

Seit 45 Jahren ist das Bundesland Oberösterreich, dank seiner geographischen Lage und der politischen Gegebenheiten in der Nachkriegszeit (östlichstes Bundesland unter nicht russischer Besatzung), jenes Bundesland, wo sich die Flüchtlinge niederlassen und eine zweite Heimat finden konnten.

In der Tat: Ganze Stadtteile in den Großstädten Linz (Neue Heimat, Kleinmünchen), Wels (Lichtenegg) und Steyr (Tabor, Resthof) und erhebliche Siedlungen in den Städten: Ried, Braunau, Vöckla-bruck, Stadl Paura, Traun, St. Martin, Haid, Marchtrenk, Hörsching, Langholzfeld und Enns wurden in den Nachkriegsjahren von Flüchtlingen besiedelt. An Stelle der ehemaligen Flüchtlingslager, wo heute noch der Bevölkerungsstock aus ehemaligen Heimatvertriebenen besteht, sind neue, regelrechte österreichische Pfarren entstanden (Haid, Wels-St. Stephan, Doppl, St. Martin bei Linz) .Die Zahl der in Oberösterreich eingebürgerten Heimatvertriebenen und Flüchtlinge beträgt über 100.000.

Heute leben in Oberösterreich, zirka 40.000 noch nicht eingebürgerte Ausländer. Die meisten von ihnen, rund 30.000, sind Gastarbeiter samt Angehörigen (Jugoslawen, Türken, Deutsche), die übrigen Konventionsflüchtlinge oder Asylwerber.

Für die seit 1945 kontinuierliche seelsorgliche und caritative Betreuung der Ausländer ist ein eigenes „Referat für Fremdsprachige“ eingerichtet, bestehend zur Zeit aus sechs Priestern, einem Pastoralassistenten und zweieinhalb Sozialarbeitern.

D ie problematischste Gruppe von Ausländern ist derzeit die der Asylwerber. In zwei Flüchtlingslagern (Bad Kreuzen und Thalham bei St. Georgen) und in den ihnen zugeordneten zirka 70 Flüchtlingsherbergen (Gasthöfen) leben durchschnittlich 5.000 Asylwerber. Die führenden Nationalitäten sind zur Zeit: Rumänien, CSSR, Polen, Türkei. Während der Prozentsatz der osteuropäischen Asyl werber immer mehr abnimmt (1988: 91 Prozent, August 1989: 79 Prozent),' wächst der Anteil der Nichteuropäer umso mehr (1988: neun Prozent, August 1989:21 Prozent). Im gleichen Maß nimmt die Zahl der katholischen und evangelischen Ausländer zugunsten der Orthodoxen und der Muslime ab. Bedingt durch die außerordentlich große Mischung (zirka 40 verschiedene Nationalitäten); die große Streuung (70 Gasthöfe in 50 Orten); und vor allem

durch die Vielfalt der Religionszugehörigkeit wird die Seelsorgearbeit immer schwieriger.

Aber auch die soziale Betreuung muß immer, höhere Hürden nehmen.

Die derzeitige Lage der Asyl Werber ist von einer immer restriktiveren Asylpolitik der Regierung geprägt. Die Anerkennungsquote sank in den ersten acht Monaten 1989 auf 17 Prozent. Ausnahme bilden derzeit noch die Rumänen mit 67 Prozent und die CSSR mit 42 Prozent Anerkennungsquoten. Demgegenüber werden die Polen und Ungarn höchstens ein bis zwei Prozent anerkannt.

Was geschieht mit den 83 Prozent Abgelehnten? Wer kann ihnen helfen?

Da die klassischen Auswanderungsländer (USA, Kanada, Australien) ihre Tore für die Auswanderer aus Europa immer mehr dicht machen, erhebt sich die Frage, ob die vielen abgelehnten Asylanten sich in Österreich, das bis jetzt als ein Transitland galt, eingliedern können.

Österreich, das seit 1945 fast eine dreiviertel Million Ausländer integriert hatte, weigert sich heute, ein Einwanderungsland zu werden. Im Sommer'1989 erprobte das Innenministerium einen bedenklichen

Lösungsversuch: 3.500 Ungarn und 4.500 Polen, die vor dem 9. Mai 19 8 8 in Österreich um Asyl ansuchten, wurden nach der erstinstanzlichen Ablehnung, meist noch bei laufendem Berufungsverfahren, „aus der Bundesbetreuung entlassen“. In Oberösterreich waren davon zirka 1.800 betroffen. Dem Rat des Innenministers, in die Heimat, wo inzwischen große Reformumwandlungen stattfanden, zurückzukehren, folgten die meisten nicht, weil sie seit anderthalb und mehr Jahren dort alle Brücken hinter sich abgebrochen hatten. Um auf diese inhumane Behandlung aufmerksam zu machen, veranstaltete eine Gruppe von 100 polnischen und ungarischen Asylwerbern vor dem Linzer Dom eine spontane Demonstration.

Der Bischof von Linz, Maximilian Aichern, mußte reagieren: Er ersuchte den Innenminister um eine liberalere Integrationspolitik. Gleichzeitig rief er alle Katholiken der Diözese auf, den Flüchtlingen zu helfen und richtete eine Krisenstelle in der Caritas ein. Diese errichtete zunächst zwei Notquartiere in Studentenheimen, später, durch die Hilfe der Landesregierung ein Notquartier in der aufgelassenen Landesblindenanstalt. Sowohl Landeshauptmann Ratzen-böck als auch der Magistrat Linz, vor allem aber der ORF und die Presse, leisteten der Caritas wertvolle Schützenhilfe und erklärten sich solidarisch mit ihrer Aktion.

Die konzentrierte Aktion blieb nicht ohne Erfolg: Über 200 Angebote der Bevölkerung trafen in der Krisenstelle ein, dank derer auch das letzte Notquartier bis 15. September aufgelöst und alle Insassen in Privatquartieren untergebracht werden konnten.

All diese positiven Stellungnahmen trugen bei, daß die anfänglich stark ablehnende, fremdenfeindliche Volksmeinung merklich umgewandelt wurde.

Angesichts dieses Meinungswandels sah sich endlich auch die Regierunggezwungen, Konsequenzen zu ziehen. Der Innenminister verlängerte zuerst die Entlassungsfrist und stoppte schließlich die Entlassung aus der Bundesbetreuung während des noch laufenden Verfahrens. Der Sozialminister ermächtigte die Arbeitsämter, allen Asylwerbern, die vor dem 9. Mai 1988 in Österreich ankamen, die Beschäftigungsbewilligung zu erteilen. Freilich, die Harmonisierung der Wohnungs- und Arbeitsplatzangebote und vor allem die lange Wartezeit auf die Beschäftigungsbewilligung der Arbeitsämter, die viele schlaflose Nächte und manche finanzielle Überbrückungshilfen erforderten, haben die Nerven der wenigen Mitarbeiter äußerst strapaziert.

So erfreulich immer die Aktion des Sommers 1989 für die Flüchtlingsbetreuung in Oberösterreich gewesen sein mochte: viele Härtefälle werden uns noch jahrelang nachhängen, besonders, was die Aufenthaltsgenehmigung der Asylanten anbelangt. Wir haben an unserem eigenen Leib die Wahrheit eines Spruches erfahren, was neulich jemand so ausgedrückt hatte: „Früher haben wir Projekte gehabt, heute ist jeder Fall ein eigenes Problem“, eben weil die Asylanten vollkommen rechtlos dastanden und wir für sie jedes minimale Recht hart erkämpfen mußten.

Aus der Erfahrung des „heißen Sommers 1989“ wurde vor allem eines klar: Die öffentliche Hand darf die Zuständigkeit über die Asylwerber nicht einzig und allein auf die Hilfsorganisationen abwälzen. Die erste Kompetenz in bezug auf die Asylwerber ist und bleibt beim Bund, dem Land und den Gemeinden. Der Caritas den „schwarzen Peter“ zuzuschieben, wenn der Bund die Asylwerber auf die Straße setzt, ist nicht statthaft. Die Caritas sah sich oft, trotz der geschilderten Erfolge, restlos überfordert, hat aber bewiesen, daß mit einigem guten Willen, in der österreichischen Gesellschaft vieles geändert werden kann. Damit hat die Kirche wieder einmal eine Pioniertat vollbracht, wie schon so oft während der Geschichte.

Der Autor ist Bischöflicher Referent für Fremdsprachige in der Diözese Linz.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung