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Eine stammesmäßige Gliederung

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Die Österreicher der Republik gelten im allgemeinen, soweit sie nicht ethnischen Minderheiten angehören, als ethnisch, stammlich und sprachlich homogen. Dies trifft schon für den im allgemeinen als bajuvarisch-österrei-chisch bezeichneten Hauptteil (östlich des Arlbergs) nicht zu. Denn die Kärntner, soweit dem deutschen Volk und nicht dem slowenischen (windischen) Volk zugehörig, sind beispielsweise nicht einheitlich Bajuvaren der stammlichen Herkunft nach, sondern zu erheblichem Teil fränkischer Herkunft, was auf die bambergischen Siedlungen zurückzuführen ist.

Erst recht gilt für Vorarlberg, daß seine Bevölkerung nicht dem bajuvarisch-österrei-chischem Stammes- und Sprachgefüge angehört. Vorarlberg gehörte zur Römerzeit zur Provinz Rätien (15 v. Chr.). Die Rätier vermischten sich allmählich mit den Römern, so daß sich ein rätisch-römisches Provinzialvolk herausbildete. Die Besiedlung war dünn. Der germanische Stamm der Alemannen1 unternahm den ersten Angriff auf die Provinz und den Limes um 213 n. Chr.; die Reichsgrenze mußte an die Grenze des heutigen Vorarlberg bei Bregenz (Brigantium) zurückgenommen werden, später bis zur Landesmitte beim Kummenberg, in spätantiker Zeit bis zu einem Ersatzlimes beim heutigen Feldkirch (Letzte-Clunia)2. Die Alemannen überfluteten den Nordteil. Obwohl sie es nie zu einem eigenen Herzogtum mit festem staatlichem Gefüge brachten, behielten sie doch ihre sprachliche und Brauchtumseigenart bei und prägten der Nordhälfte des heutigen Vorarlberg ihre

Eigenart auf, wobei auch die Flurnamen und Ortsnamen in diesem Teil durchweg germanisch-alemannisch wurden und blieben, während im Süden die Provinzial-Romanen (Rätoromanen) noch bis vor 180 bis 250 Jahren sich vereinzelt halten konnten, jedenfalls den Orts- und Flurnamen ihren Stempel ausprägten (Bludenz = paludines, Montafon, Gar-nera, Frastanz, Tisis usw.).

In dieses eher dünn besiedelte Gebiet, in welchem zudem die (alemannischen) Mont-forter Grafen durch ihre Siedlungen, wie Feldkirch, starke alemannische Inseln brachten, kamen zudem die aus dem Kanton Wallis auswandernden Walser, ebenfalls Alemannen, und zwar die einzigen der hochalemannischen Sprachgruppe. Sie besiedelten vor allem auch das Große Walsertal im Süden des Landes und Bergeshöhen am Arlberg und im Montafon. Die Rätoromanen verschwanden als Sprachgruppe allmählich. Vorarlberg wurde sprachlich und stammlich einheitlich alemannisch.

Obwohl frühzeitig habsburgischer Besitz geworden (Feldkirch 1375, Bregenz 1451) war Vorarlberg den übrigen habsburgischen Landen kaum verbunden, auch nicht Tirol. Noch heute ist der Arlberg eine ungeheure Scheide zum übrigen Österreich, früher, bei fehlenden Verkehrsverbindungen, war er eine Trennwand schlechthin, während das Land nach Westen und Nordwesten, zu stammverwandten Gebieten hin, offen war.

Eine recht oberflächliche Tünche innerösterreichischer Herkunft (meist aus Tirol, dessen Gubernium mit Sitz in Innsbruck Vorarlberg bis 1867, im Grunde sogar bis 1918, unterstellt war) bildete die von den zentralen Staatsbehörden eingesetzte Beamtenschaft der staatlichen Behörden und die Richterschaft. Sie konnte an dem stammlichen Gefüge nichts ändern. Als mit der Gründung der Ersten Republik die vollständige Trennung von Tirol vollzogen wurde, verstärkte sich dieses Festhalten am alemannischen Volkscharakter noch, obwohl nach der Struktur der Bundesverfassung von 1920 notwendigerweise Richter, Finanzbeamte, Mittelschullehrer, Eisenbahnbedienstete und Beamte anderer Bundesbehörden und -Institutionen in großer Zahl ins Land kamen. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung konnte deren stammlicher Charakter dadurch kaum verändert werden, zumal im Arbeits- und Wirtschaftsleben aus Innerösterreich nur wenige Zuwanderer zu verzeichnen waren.

Die änderte sich mit dem Ende des zweiten Weltkrieges grundlegend. Zwar verschwanden die Fremdarbeiter (displaCed persons) und die Wlassow- und Laval-Leute ebenso spurlos wie die Angehörigen der deutschen Wehrmacht (bis auf einige Lazarettinsassen). Dafür drängte aber eine sehr große Anzahl von Flüchtlingen und Vertriebenen in das Land, von denen doch ziemlich viele geblieben sind. Die Anzahl der Inländer betrug 1945 (Dezember) 159.000 gegenüber 149.000 im Jahre 1938. Wenn man den natürlichen und sonstigen Zuwachs mit den Kriegsverlusten ungefähr gleich hält, so ist in diesen 159.000 Personen schon ein recht beachtlicher Teil Inner-öeterreicher enthalten, die im der Ereignisse zu Kriegsende Vorarlberg kamen. Außerdem wurden Ende 1945 27.262 Ausländer gezählt', wozu vor allem Vertriebene und Flüchtling aus den Staaten des Donauraums zu rechnen waren, allerdings auch etliche deutsche Staatsangehörige und vor allem Südtiroler, von denen ja mehrere tausend nach Vorarlberg umgesiedelt worden waren (Bregenz, Bludenz, Feldkirch).

Die Anzahl der Ausländer ist seither konstant zurückgegangen und betrug Ende 1962 noch 10.668 (davon 5422 Deutsche, 1572 Schweizer und Liechtensteiner und 1093 Südtiroler und andere nicht eingebürgerte Volksdeutsche). Von der 1945 fast das Dreifache betragenden Anzahl der Ausländer sind wohl die meisten deutsche Staatsangehörige gewesen und als solche in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt oder von der in dieser Beziehung sehr rigoros vorgehenden französischen Besatzungsmacht ausgewiesen worden. Nur 7614 deutsche Staatsangehörige wurden 1945 bis 1963 eingebürgert, wozu 7352 Südtiroler und 3000 Volksdeutsche aus dem Donauraum kamen. Immerhin ist die Einbürgerung von rund 18.500 Personen, die durchweg in Vorarlberg auch verblieben sind und ihre Heimat hier gefunden haben, im Verhältnis zur Anzahl der (wohl zu 98 Prozent) alemannischen Bevölkerung des Landes in ihrer angestammten Heimat als Überfremdung größten Ausmaßes anzusehen.

Im gleichen Maß, wie die Anzahl der Ausländer bis heute durch Einbürgerung oder Abwanderung abgenommen hat, ist aber die Anzahl der Inländer gestiegen, und noch weit darüber hinaus. Hierbei müssen wiederum Unterscheidungen gemacht werden. Vorarlbergs alemannische Bevölkerung hat eine sehr hohe Geburtenrate, eine größere sogar als das früher einmal an erster Stelle stehende Kärnten, noch dazu mit dem Vorzug, daß die un-< ehelichen Geburten (verglichen mit Kärnten)

sich in eher geringen Grenzen halten. Der Geburtenüberschuß beträgt in den letzten Jahren jährlich rund 3600. Dazu kommt aber

die zweite Zuwanderungs- und Überfremdungswelle, nämlich die Konjunkturwelle mit dem (von der Vorarlberger Industrie nachhaltigst geförderten) Zustrom von manuellen Arbeitskräften aus unterentwickelten österreichischen Gebieten, vor allem aus Kärnten und der Steiermark. Diese Zuwanderung hat zwar in den letzten Jahren, mit der Besserung der wirtschaftlichen Lage in diesen vom Sozialministerium zu Entwicklungsgebieten erklärten Verwaltungsbezirken, stark rückläufige Tendenz. Betrug 1958 der Aktivsaldo des Bevölkerungszuwachses des Landes noch 5390, ein Rekord, der vor allem auf diese Zuwanderung zurückging, so liegt er jetzt bei 4000 jährlich.

Die Bevölkerungszunahme des Landes seit 1945 ist (prozentuell gesehen) enorm. Die Volkszählung ergab eine Wohnbevölkerung von 226.323 (einschließlich der genau 10.000 Ausländer); die Verwaltungszählung weist für Ende 1963 243.705 Personen aus (davon 11.398 Ausländer). Gegenüber 1945 mit seinem schon etwas erhöhten Stand bedeutet dies eine Zunahme um rund 29 Prozent. Hiervon sind mit Sicherheit gut die Hälfte stammlich keine Alemannen. Obwohl hierüber keine Statistiken bestehen, wird man von den rund 232.000 Inländern, die Vorarlberg Ende 1963 zählte, etwa 25.000 nichtintegrierte Österreicher anderen als alemannischen Stammestums aus anderen Bundesländern- zu rechnen haben (vorwiegend manuelle Arbeitskräfte in der Industrie, auch Beamte und Angehörige von Dienstleistungsberufen), ferner etwa 10.000 bereits hier Geborene, deren beiden Elternteile keine Alemannen sind, und etwa 10.000 weitgehend integrierte Personen, die selbst schon vor längerem, meist vor Jahrzehnten (1945 und früher) ins Land kamen und sich hier verwurzelten. (Das austrobajuvarisch-alemanische Connubium ist bedeutend.)

An und für sich müßte man um das Volkstum, also auch das Stammestum, in einem Land, das Zuwanderer der eigenen Volksart nicht zu erwarten hat, besorgt sein, angesichts der Tatsache, daß zwischen 20 und 25 Prozent der Bewohner seines Gebietes einem anderen Stammestum angehören. Tatsächlich erweist sich aber die alemannische Wesensart, auch ihre Dialektkraft, sicher aber auch ihr zähes Festhalten an Boden und Väterglauben als so mächtig, daß diese so bedeutende Anzahl Zuwanderer aufgesogen und voll integriert wird. Wer nicht sich einzuordnen, nicht die innere Verbindung und Liebe zu dieser neuen Heimat zu finden vermag, hat sie in aller Regel nach zehn Jahren wieder verlassen und bleibt über einen mehr oder minder zwangsläufigen Aufenthalt hinaus nicht hier. Viele andere deutsche Stämme verlieren sich relativ rasch in anderem Stammestum oder lassen sich bei starker Zuwanderung davon verformen. Dafür gibt es in der Bundesrepublik Deutschland sehr viele, gar nicht erfreuliche Beispiele. Der Alemanne hat größeres Beharrungsvermögen. Wenn die Zuwanderung allmählich zurückgeht — sie muß es wohl, da die Arbeitsplätze allmählich fehlen, vor allem aber Wohnraum und Boden sich nicht beliebig vermehren lassen —, ist es wohl sicher, daß in zwei Generationen der Absorptions- und Integrationsprozeß abgeschlossen ist. Das ist erfreulich. Denn das alemannische Zuge ' Österreich, Vorarlberg also, soll Bestand nach

haben, um zur Vielfalt gesamten österreichischen Wesens beizutragen.

1 Vgl. hierzu Artur Schwarz, Vorarlberger Heimatkunde, Bregenz, Verlag E. Ruß & Co., ein Werk von größter Gründlichkeit und wirklich dauerhaftem Wert.

* Der in Feldkirch verstorbene Kärntner Historiker Dr. Franz Jantsch hat über den spätantiken Limes in Vorarlberg bedeutende Forschungsergebnisse vorgelegt, die in der Akademie der Wissenschaften erschienen sind.

* „Vorarlberger Wirtschafts- und Sozialstatistik“, XIX. Jahrgang 1963, Folge 1, und XX. Jahrgang 1964, Folge 6.

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