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Brückenkopf im Westen

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FURCHE: Vorarlbergs West- orientierung ist sicherlich in er- ster Linie, wenn auch nicht aus- schließlich eine Folge der Geogra- phie. Denkt Vorarlberg eigentlich auch an den Osten Europas?

LANDESHAUPTMANN MAR- TIN PURTSCHER: Selbstverständ- lich denkt auch Vorarlberg an den Osten. Wir werden uns bemühen, die sich abzeichnende Öffnung und Demokratisierung in Osteuropa zur Intensivierung unserer Beziehun- gen zu nutzen, freilich ohne unsere historisch gewachsene Westorien- tierung in Frage zu stellen.

FURCHE: Die Umwälzungen in den ehemaligen Ostblockstaaten stellen eine Herausforderung für ganz Österreich dar. Sucht auch das Ländle hier seinen Platz?

PURTSCHER: Sie haben recht, die Umwälzungen im Osten sind eine große Herausforderung für Österreich und auch eine große Chance, die Vorarlberg gemeinsam mit den anderen Bundesländern wahrnehmen will. Das ist keine Frage. In der österreichischen Brük- kenfunktion kommt den verschie- denen Regionen aber eine unter- schiedlich akzentuierte Rolle zu. Ich sehe Vorarlberg als Österreichs traditioneller Brückenkopf im Westen. Im übrigen optiert heute ganz Europa für den Westen, eine Entscheidung, die Österreich be- reits 1945 getroffen hat. Daran müssen wir auch festhaken. Bei aller Sympathie für das mitteleuropäi- sche Denken und bei aller Notwen- digkeit engerer Verbindungen mit dem Osten, dürfen wir uns in der Frage der europäischen Einigung gerade jetzt nicht in eine Grauzone zwischen West und Ost abdrängen lassen. Das betont ja auch mein verehrter Freund und Mitteleuro- pavordenker Erhard Busek immer wieder mit Recht.

FURCHE: Österreichs Politiker wurden speziell von der Rumänen- Flüchtlingswelle völlig überrascht. Ein offenbar völlig veralteter Flüchtlingsbegriff, hat zu einem Desaster österreichischer Flücht- lingspolitik geführt. Wo bleibt hier der Föderalismus?

PURTSCHER: Was heißt „veral- teter Flüchtlingsbegriff"? Das Asyl- recht ist das Recht auf Schutz vor Verfolgung. Dieses Recht gilt es unbedingt zu achten. Weniger obrig- keitsstaatliches Fürsorgedenken und mehr Flexibilität in der Be- schäftigungsfrage könnte dabei zu einer rascheren Integration beitra- gen. Eine Ausweitung des Asyl- rechtsbegriffes auf ein Recht auf soziale Sicherheit in einem anderen Staat halte ich allerdings nicht für zielführend.

Die österreichischen Bundeslän- der planen für heuer, insgesamt 14,6 Millionen Schilling für Entwick- lungshilfeprojekte beizusteuern. Davon gehen allein fünf Millionen auf das Konto Vorarlbergs. Dar- über hinaus hat das Land Vorarl- berg auch mit der Osthilfe, vorerst für Polen und Rumänien, begon- nen. Auch das Spendenaufkommen der Vorarlberger Bevölkerung ist traditionell hoch. Man kann darü- ber hinaus auch die Auffassung ver- treten, daß der Schritt vom Asyl- land zum Einwandererland für Österreich angesichts des progno- stizierten Bevölkerungsrückganges in den östlichen und südlichen Bun- desländern zukunftsweisend sein könnte. Dann gilt es aber, nach Ge- sichtspunkten der Integrationsmög- lichkeiten gezielt Einwanderungs- kontingente festzulegen. Vorarlberg ist seit Jahrzehnten ein „Einwan- derungsland" mit allen damit ver- bundenen Vorzügen und Problemen.

Die ÖROK prognostizierte 1988 für Vorarlberg im Zeitraum von 1981 bis 2011 eine Zunahme der Bevölkerung um 17 Prozent und der Privathaushalte um 47 Prozent. Der österreichische Durchschnitt wird mit einem beziehungsweise 1,8 Prozent angegeben. Allein aus die- sen Zahlen ist schon ersichtlich, daß Vorarlbergs Aufnahmekapazitäten darüber hinaus sehr gering sein werden. Im Föderalismus gilt das Ordnungsprinzip der Subsidiarität. Was Vorarlberg zu leisten in der Lage ist, wird es auch tun.

FURCHE: Haben Vorarlberger Politiker dem Sozial- beziehungs- weise Innenministerium Hilfe bei der Lösung des Flüchtlingsproblems angeboten?

PURTSCHER: Das „Desaster" - wie Sie es vorhin nannten - ist zu einem guten Teil hausgemacht. Eine Auswanderungswelle aus Rumä- nien war zu befürchten. Das Innen- ministerium hätte nach den Weih- nachtsferien zumindest prophylak- tisch mit umfassenden Vorberei- tungsarbeiten beginnen und vor allem eine entsprechende Öffent- lichkeitsarbeit leisten müssen. So konnte der Eindruck entstehen, Österreich werde über Nacht von Rumänen überrannt. Der Innenmi- nister hat uns erst fünf Minuten nach zwölf eingebunden. Im Club 2 klagte er darüber, daß die Landes- hauptleute auf sein Hilfeersuchen noch nicht reagiert hätten. Der entsprechende Brief erreichte mich erst am Tag darauf. Die Landesre- gierung hat daraufhin sofort die Bezirkshauptmannschaften beauf- tragt, in Zusammenarbeit mit den Gemeinden Unterbringungsmög- lichkeiten zu prüfen. Erste Berichte sind allerdings nicht sehr ermuti- gend, auch angesichts der latenten Wohnungsnot, von der gerade un- sere Gastarbeiter arg betroffen sind.

FURCHE: Was sind die momenta- nen Hauptprobleme mit den Gast- arbeitern in Vorarlberg?

PURTSCHER: Wir müssen uns zunächst einmal die Größenordnun- gen bewußt machen. Der Auslän- deranteil beträgt in Vorarlberg be- reits zwölf Prozent. Von den rund 40.000 Personen sind zirka die Hälfte türkische und etwa ein Drit- tel jugoslawische Staatsangehöri- ge. Allein im vergangenen Jahr hat sich der Ausländeranteil um mehr als 5.000 Personen erhöht. Die sprunghafte Zunahme des Auslän- deranteils ist vor allem ein Ergeb- nis der Familienzusammenführung. Sie hat die bestehenden Probleme auf dem Arbeits- und Wohnungs- markt, im Bereich der Schule und auf anderen Gebieten wesentlich verschärft. Im Pflichtschulbereich ist bereits jedes sechste Kind aus dem Ausland. Der Gastarbeiterkin- deranteil beträgt bei manchen Schu- len bis zu 60 Prozent.

1989 mußten aufgrund von Schubabkommen über 3.000 Aus- länder, vorwiegend Türken, von der Schweiz und der Bundesrepublik übernommen und in ihre Heimat- länder zurückgeführt werden. Mehr als 100 Festnahmen pro Wochenen- de waren keine Seltenheit. An un- seren Grenzen spielten sich un- glaubliche Tragödien ab. Die Inte- gration der Gastarbeiterfamilien, vor allem der türkischen, ist eine große Herausforderung.

FURCHE: Vorarlberg wird ein eigenes Demokratiebewußtsein nachgesagt. In welchen Strukturen wird dieses manifest?

PURTSCHER: Bereits in der Vorarlberger Landesverfassung von 1919 wurden nach Schweizer Vor- bild die Instrumente direkter De- mokratie verankert. Nach dem Bei- tritt zu Österreich mußte diese sehr moderne Verfassung jedoch 1923 einer den österreichischen Gegeben- heiten angepaßten Landesverfas- sung weichen. Bei der Verfassungs- reform 1984 lag in Anknüpfung an 1919 das Schwergewicht auf einer neuerlichen Ausweitung der Ein- richtungen der direkten Demokra- tie. So wurden zum Beispiel die Möglichkeit des Volksbegehrens auf Verwaltungseinrichtungen ausge- weitet, Volksabstimmungen für einschneidende verfassungsändern- de Gesetzesbeschlüsse für obliga- torisch erklärt und in Verwaltungs- angelegenheiten die Möglichkeit einer Volksbefragung eingeführt. Diese drei Einrichtungen gelten auch auf Gemeindeebene.

FURCHE: Wirtschaft und Unter- nehmen, wird heute nicht selten geklagt, befinden sich zur Zeit im Würgegriff von Bürgerinitiativen und Grünbewegungen. Haben auch die Vorarlberger genug vom Stra- ßenbau und vom Verkehr (Stich- wort Westtangente Dornbirn), muß sich auch die Wirtschaft vermehrt ökosoziale Fragen gefallen lassen?

PURTSCHER: Wer hat nicht genug vom Straßenbau und vom Verkehr? Glauben Sie im Ernst, daß heute noch leichtfertig neue Stra- ßen gebaut werden? Freilich legen wir das Schwergewicht unserer Verkehrspolitik auf die Eindäm- mung des Individualverkehrs und die Förderung des öffentlichen Verkehrs. Doch versuchen Sie ein- mal den Anrainern der Rheinstraße in Bregenz zu erklären, daß wir keine S 18 brauchen. Jeder Bürgerinitia- tive gegen eine neue Straße steht eine Bürgerinitiative gegenüber, die sie vehement fordert.

Was die Wirtschaft betrifft, so muß sie sich nicht nur ökosoziale Fragen gefallen lassen, sie stellt sie sich auch selbst. Allein die Vorarl- berger Industrie hat im vergange- nen Jahr 360 Millionen Schilling für Umweltschutzinvestitionen aufgewendet. Das sind 15.000 Schil- ling pro Arbeitsplatz, zwölf Pro- zent mehr als im Vorjahr und drei- mal so viel wie die Zunahme der Industrieproduktion. Vorarlberg hat als erstes Land bereits im Juni letzten Jahres ein ökosoziales Wirt- schaftskonzept verabschiedet, das die Vision einer konkurrenzfähigen Wirtschaft in einer lebenswerten Umwelt zum Ziel hat. Daran wer- den wir weiterarbeiten.

Das Interview mit Landeshauptmann Dr. Martin Purtscher führte Franz Gansrigier.

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