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Europäische Völkerwanderung

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Jedem Kulturmenschen ist zumindest aus dem Schulunterricht der Begriff der Völkerwanderung, die großen Züge • in den Jahrhunderten, in denen das römische Weltreich zusammenbrach, bekannt. Wie wenige aber bedenken, daß die Millionen Menschen, die unser Jahrhundert, und vor allem der letzte große Krieg, zum Verlassen ihrer Heime zwang, eine neue Völkerwanderung hervorriefen, die zwar der Zeit nach einen kürzeren Umschichtungsprozeß bedeutet — wenn er auch noch nicht beendet sein dürfte —, der Zahl der bewegten Menschen nach jedoch unendlich größer ist. Fast ein Viertel aller Europäer dürften im Laufe des ersten und zweiten Weltkrieges ihre Wohnstätten verlassen, Distanzen von mehreren hundert Kilometern durchschritten haben, und nur zum Teil konnten sie oder werden sie wieder zurückkehren. Die Luftgefahr, die wechselnden Fronten, die dauernd ich ändernden Grenzen und letzten Endes die großen Umsiedlungen, haben dies bewirkt. Vergessen wird auch fast immer, daß die Transportmittel der ziehenden Volksstämme von einst und diejenigen, deren sich die heute Wandernden bedienen, gar nicht so sehr verschieden sind, wie es die eineinhalb Tausende der seither verflossenen Jahre vermuten lassen könnten. Zu Fuß und in Trecks sind Hunderttausende, ja Millionen Menschen seit Jahren über unseren Kontinent gezogen und streben auch heute kaum anders ihrer Heimat zu.

Es ist noch nicht möglich, über die Bevölkerungsverschiebungen, die durch die Veränderungen der Fronten oder die Luftgefahr, übrigens meist nur für relativ kürzere Zeiten, entstanden sind, selbst nur umrißartig zu berichten. Gegenstand dieser Studie sollen vor allem die Umsiedlungen sein, das heißt jene organisierten Ortsveränderungen solcher Bevölkerungsmassen, denen man wenigstens das Prädikat „Volksstamm“ einräumen kann. E gilt dies für die Balten-, wie auch für die Bessarabiendcutschen, wie auch für die in der Türkei ansässig gewesenen Griechen oder etwa die Ingermanländer südlich Leningrad. Unsere Darstellung der Umsiedlungen soll sich nur auf die

Bevölkerungsverschiebungen nach dem ersten Weltkrieg

erstrecken.

Schon im Mittelalter haben fremde Fürsten deutsche Einwanderer ins Land gerufen, während in späteren Jahrhunderten die Deutschen, der Enge ihrer landesherrlichen Verwaltung entweichend, meist nach Übersee auswanderten. Im Osten war so ein großes Mischgebiet mit verschiedenen, k'aum geschlossenen deutschsprachigen NatJe-nalitätensplittern und Streusiedlungen entstanden.

1919 hatten sich auf dem Gebiet der

russischen Ostseeprovinzen die selbständigen Staaten Estland, Lettland und Litauen gebildet, deren Regierungen den deutschen Großgrundbesitz enteigneten und damit der deutschen Minderheit die Grundlage ihrer be-herrsdienden Positionen nahmen. Es war ein Glück für diese enteigneten Balten, daß des demokratische Deutschland sie nicht „umgesiedelt“ hat, also nicht eh bloc in ein fremdes Milieu überführte, sondern nach und nach in die deutsche Republik als Zuwander er aufnahm. Dieser Wanderungsprozeß erstreckte sich so über Jahre und umfaßte etwa hunderttausend Balten. Ein Teil der 1907 bis 1913 von kurländischen Großgrundbesitzern angesiedelten tausend wolhynischen Familien verließ ebenfalls wieder das Land. Da es fich im großen und ganzen bei diesen Hunderttausend weniger um Bauern, als vielmehr um Angehörige gebildeter Berufsstände handelte, war die Einschmelzung keine zu schwierige.

Die bäuerlichen Gruppen, die vor allem unter Kaiser Josef II. in Ostgalizien, im Cholmer Land und in Wolhyr.ien Neuland erwarben, hatten starke Bevölkerungsverluste durch den Weltkrieg, Umsiedlungen nach Sibirien und Enteignungsmaßnahmen erlitten. Tausende Wolhynier waren auch nach Kanada ausgewandert. Der Minderheitensplitter im N a r e w g e b i e t ist so gut wie untergegangen. Die fast hunderttausend Bessarabiendeutschen, aus Kongreß-Polen 1815 zuwandernd, konnten sich im großen und ganzen behaupten, soweit sie nicht.auch nach Übersee auswanderten.

Diese, wie letzten Endes alle Wanderungen der Nationalitäten, waren von wirtschaftlicher Not, oft auch von kriegerischen Ereignissen diktiert

Wenn eine Bevölkerungsgruppe irgendwo im fremden Land einmal hatte Fuß fassen können, verharrte sie fast leiden-schaftlidier auf dem errungenen Grund und Boden als die Angehörigen des Staatsvolkes selbst. Darum konnte eigentlich nur Zwang die Mensdien wieder entwurzeln, die auf fremder Erde eine oft schon seit Jahrhunderten bestehende neue Heimat gefunden hatten.

Es mag vorteilhaft sein, bei der nüchternen Untersuchung dieser Vorgänge den Blick von den Erscheinungen der letzten Jahre abzuwenden. Die große Schuld der Politik des Dritten Reiches, und hier wieder vor allem der S S., die ja das Ausführungsorgan der Umsiedlungen Deutscher und Nichtdeutscher, meist auch der Veranlasser derselben gewesen ist, verbittert begreiflicherweise den Beschauer und ermöglicht kaum eine unbeeinflußte und distanzierte Beurteilung.

Dagegen liegt der Bevölkerungsaustausch der Griechen und Türken schon weit zurück und hat in unserer Heimat keine Folgen gezeitigt, so daß an Hand dieses Vorganges das Wesen großer Bevölkerungsverschiebungen gut untersucht werden kann.

Bei Umsiedlungen gibt es solche einseitiger Natur, bei denen ein Staat eine Bevölkerungsgruppe zurückzieht oder eine Nationalität zur Abwanderung zwingt, und zweiseitige, welche den Austausch von Nationalitäten zur Folge haben. Es ist selbstverständlich, daß bei einem solchen Austausch meist eine größere, materiell oft bessergestellte Gruppe von Menschen ihre Heimat verläßt, um neue Wohnsitze zu beziehen, die ihr von einer kleineren freigemacht worden sind. Infolge der verschiedenen Wirtschaftsverhältnisse ist auch der Druck, der auf die einzelnen Nationalitäten ausgeübt wird, verschieden.

Oft bedeutet eine solche Umsiedlung nichts anderes als die gesetzliche Sanktionierung eines wenigstens auf einer Seite schon bestehenden Zustandes, das heißt, Geflüchtete werden als Umgesiedelte behandelt.

Die Tragödie der Kleinasien-Griechen 1923 haben in der Schweiz, am Ufer des Genfer Sees in Ouchy bei Lausann, die Vertreter Griechenlands und der Türkei unter dem Vorsitz Lord Curzons den Austauach der in der Türkei lebenden Griechen und der in Griechenland lebenden Türken (außer denen des westlichen Thraziens) beschlossen. Die meisten Griechen Kleinasiens waren damals bereits als Flüchtlinge in Griechenland. Sie hatten das Land verlassen, nachdem in Smyrna die griechischen Viertel erstört und die griechische Armee in Kleinasien besiegt worden war. Schon um diese Millionen demoralisierter und einkommanloser Menschen zu befriedigen, brauchte man die Ländereien in Mazedonien und im Epirus, dt iraajen hunderttausend Türken gehörten.

Es ist Interessant und typisch für die Mentalität der Umsiedler, daß noch viele Jahre nach Abschluß des Bevolkerungsaustavsches die Griechen von einer Rückkehr nach Kleinasien träumten. Erst in der Periode der langen Freundschaft mit der Türkei, wohl aber auch in den harten Jahren der Okkupation Griechenlands, haben die kleinasiatischen Griechen den Prozeß der vollkommenen Einsehmelzung beendet.

Etwas später wurde ein neuer Bevftl-kerungsaus tausch zwischen Griechenland und Bulgarien vollzogen. Einiger Zwang war hier wohl nicht yermeidbar, besonders um die Bulgaren Mazedoniens und Thraziens in die Länder nördlich der Rhodopen zu bringen, doch trotz Einsatzes verschiedener Machtmittel ist ein großer Teil zurückgeblieben. Gerade dieser Bevölkerungsaustausch bewies schlagend, daß

eine Umsiedlung nie auf der Grundlage

der Freiwilligkeit vollzogen wird.

Das Dritte Reich hat diese Tatsache gekannt und durch Propaganda in jenen Gebieten lang vorgearbeitet, die von deutschen Volksgruppen bewohnt waren, deren Umsiedlung bereits seit langem erwogen wurde.

Wanderungen der Juden

Die Juden sind als Weltminderheit zweifellos ein besonderer Typus. Sie waren ursprünglich weniger als nationale Minderheit, denn als religiöse zu betrachten. Als nationale Minderheit könnten sie eigentlich erat seit dem Entstehen des zionistischen, beziehungsweise des revisionistischen Einflusses bezeichnet werden. In einer gewissen Wanderungsbewegung befanden sie sich schon deshalb, weil es in manchen Staaten, vor allem im Osten Zentraleuropas von Zeit zu Zeit zu Verfolgungen und Druck gegen die Judengemeinden kam. Die Sowjetunion löste das Judenproblem nicht nur durch eine großzügige Minderheitenpolitik, sondern auch durch die Schaffung eines jüdischen Gemeinwesens mit autonomer Verfassung im Fernen Osten. Die Balfour-Deklaration gab den Juden, die vordem nach Westeuropa und den Vereinigten Staaten strömten, schließlich als festes Ziel ein nationales Heim in Palästina.

Durch Jahrzehnte wanderte das Judentum stetig dorthin ab.

Die Maßnahmen des Dritten Reiches, besonders in den Jahren des zweiten Weltkrieges, waren gegen die Juden von solcher Grausamkeit diktiert, daß hier nicht von einer Wanderung oder Umsiedlung, sondern nur von einer systematischen Vernichtung die Rede sein kann. Es ist nicht Aufgabe, sich hier mit dieser Frage zu beschäftigen; festgestellt sei jedoch, daß sich das ethnische und religiöse Bild großer europäischer Landstriche weitgehend verändert hat und daß die Zahl der auf diese oder jene Weise vernichteten Juden mehrere Millionen betragen haben muß. Aber dies alles fällt schon in die Zeit des zweiten Weltkrieges.

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