6677309-1961_28_15.jpg
Digital In Arbeit

Vorarlberg Mitte 1961

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn mir, als ich vor 34 Jahren in das politische Leben trat, jemand vorausgesagt hätte, es werde eine Zeit kommen, in der der Landeshauptmann von Vorarlberg beklagen muß. daß für die im Lande bestehenden wirtschaftlichen Aufgaben zu wenig Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, hätte ich ungläubig den Kopf geschüttelt. Meine Vorgänger standen vor dem Problem der Arbeitslosigkeit, und heute zerbrechen wir uns den Kopf darüber, wie wir wenigstens einen Teil der Grenzgänger, der Arbeiter, die in Vorarlberg wohnen, aber in der Bundesrepublik Deutschland, in der Schweiz oder im Fürstentum Liechtenstein ihrem Erwerb nachgehen, für die heimische Wirtschaft zurückgewinnen können.

Vom Bevölkerungszuwachs, den Österreich 1951 und 1961 erzielen durfte, entfällt ein Viertel auf Vorarlberg, obwohl unser Land nur ein Dreißigstel der österreichischen Gesamtbevölkerung in seinen Grenzen umschließt. Diese Entwicklung beweist zweierlei. Die Ehen der Vorarlberger sind kinderreicher als anderswo, und der wirtschaftliche Wohlstand bei uns zieht immer noch Arbeitskräfte aus anderen Bundesländern zu uns. Wenn man bedenkt, daß es sich bei den Arbeitern aus der Steiermark, aus Kärnten oder aus dem Burgenland meistens um junge Leute handelt, die zu einem guten Teil bei uns heiraten und Familien gründen, versteht man, daß die an sich hocherfreuliche bevölkerungspolitische und wirtschaftliche Entwicklung für die Landesregierung große Aufgaben mit sich bringt. Die jungen Familien brauchen Wohnungen, die steigende Kinderzahl läßt die Reihe neuer Schulbauten nicht abreißen, der Verkehr auf Straße und Eisenbahn wird immer dichter und zwingt zu umfangreichen Investitionen, die Gemeinden kommen mit Wasserleitungs- und Kanalbau kaum nach. Wir dachten einmal, mit dem Abzug der Besatzungstruppen würde der Zug nach dem „goldenen Westen” aufhören oder sich doch verlangsamen, haben uns aber getäuscht. Die Ursache für die wirtschaftspolitische Entwicklung dürfte darin zu suchen sein, daß die europäischen Integrationspläne die ökonomischen Beziehungen zum Westen fortgesetzt verstärken, während! die osteuropäischen Länder, die einst mit Östiüfch unter cinem-’ö|i& IcbtenJJmmei weiter von’uns wegrücken.

Vorarlberg grenzt an WirfsChafrsgeb feie, in denen der Lebensstandard noch höher liegt als bei uns. Diese Erscheinung, die wir nicht verursacht haben und die wir nicht ändern können, bringt es zwangsläufig mit sich, daß der Anreiz, im Inland zu wohnen, aber im Ausland zu arbeiten, gegeben ist. Man schätzt, daß bereits gegen 5000 Männer und Frauen als Grenzgänger in der Schweiz, gegen 1500 in Liechtenstein und in Deutschland verdienen, aber in Österreich wohnen und ohne Gegenleistung unsere sozialen Errungenschaften genießen. Seit der Aufwertung der D-Mark ist es an der deutschen Grenze lebhaft geworden, nicht nur aus dem Raume von Bregenz in Richtung Lindau, sondern sogar im Bregenzerwald nach den benachbarten Orten des Allgäu. Unsere Wirtschaft hat es mit einigem Erfolg versucht, diese Entwicklung abzufangen, indem Fabriksbetriebe in den Dörfern des Bregenzerwaldes errichtet werden, welche die Arbeitsreserven auf fangen und ihnen Verdienstmöglichkeiten im eigenemört schaffen, wodurch auch das Pendlerwesen mit seinem zum Teil unerfreulichen menschlichen Folgen begrenzt wird. In’ letzter Zeit fanden zwischen Schweizer und Vorarlberger Unternehmergruppen Absprachen statt, welche der Abwerbung Einhalt gebieten sollen. Es ist sehr zu begrüßen, daß dieses Problem auf gütlichem Weg geordnet wird.

Es war allein der Mangel an Arbeitskräften schuld, daß trotz weitgehender Rationalisierung die Produktionssteigerung in unserer Industrie sich verflachen mußte. Die Zahl der Beschäftigten in der Vorarlberger Industrie nahm im Jahre 1960 nur um 259 Personen, also nicht einmal um ein Prozent zu. Schon zu Jahresbeginn sprach die Vorarlberger Industrie von einem Fehlen von mehr als 2000 Arbeitskräften. Der Mangel an Arbeitskräften ist auch das große Problem der Fremdenverkehrsbetriebe. Im Jahre 1960 durchschritt Vorarlberg zum ersten Mal die Grenze von drei Millionen Nächtigungen. Trotzdem im Spätwinter 1961 das Tauwetter sehr früh einsetzte, stieg die Zahl der Übernachtungen im Winterhalbjahr von 1,177.098 in der Saison 1959/60 auf 1,362.538 im letzten Winter. Allein die Zahl der Nächtigungen von Gästen aus der Bundesrepublik Deutschland hob sich von 828.901 auf 1,004.325, aber auch die Zahlen des Besuches von Engländern, Franzosen, Niederländern, US-Amerikanern und Schweizern stiegen. Bei der weiten Entfernung von Wien und anderen österreichischen Großstädten ist besonders beachtlich, daß die Zahl der Übernachtungen von Österreichern sich von 117.673 auf 132.420 steigerte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung