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Vor der Zukunft

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Am Ende der Welt gelegen, galt das Mühlviertel lange als Armenhaus Oberösterreichs. Seit der Wende J989 gibt es Hoffnung für das Grenzland.

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Am Ende der Welt gelegen, galt das Mühlviertel lange als Armenhaus Oberösterreichs. Seit der Wende J989 gibt es Hoffnung für das Grenzland.

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Oer im Mühlviertel bleiben wolle? Der junge Autostopper, den ich von Linz nach Freistadt mitnehme, schüttelt energisch den Kopf. „Nein, im Mühlviertel sehe ich keine Zukunft für mich”, antwortet er verdrossen. Sie sind zu Hause sieben Kinder und keines will den Bauernhof der Eltern übernehmen, weil dieser zu klein ist, um ordentlich wirtschaften zu können. Nur neun Hektar umfaßt das Grundstück der Eltern, und alles ist weit über die Gegend verstreut. (Siehe dazu Seite 17.)

Jetzt wird er in der Voest-Alpine zum Schlosser ausgebildet. In Linz möchte er bleiben und Arbeit suchen, wenn er seine Lehre beendet hat. So wie er denken viele junge Menschen in Oberösterreich, die nördlich der Donau aufgewachsen sind.

Das Mühlviertel gilt noch immer als Armenhaus Oberösterreichs. Die geringe Fruchtbarkeit des Bodens, die Schwierigkeit des Geländes und das rauhe Klima mit zu geringen Niederschlägen, der kalte „böhmische” Wind und die starke nächtliche Abkühlung sorgen für ein hartes Leben. Fast alle Gemeinden liegen über 500 Meter und haben in der Begel nur drei frostfreie Monate (Juni, Juli und August). Nach wie vor dominieren kleine Gewerbebetriebe und Bergbauernhöfe - nach den gängigen Bewertungskriterien werden tatsächlich viele so kategorisiert - mit geringer Produktivität das Wirtschaftsleben. Immer mehr Landwirte verlassen daher ihre Höfe oder gehen einem Zu-oder Nebenerwerb nach. Der Beschäftigungsanteil im Agrarsektor sank innerhalb der letzten zehn Jahre um mehr als ein Drittel.

Von den 60.000 Einwohnern des Bezirkes Freistadt etwa müssen sich mehr als 12.000 ihr Brot als Tagespendler verdienen, in Spitzenjahren arbeiteten rund 7.000 Freistädter allein bei der Voest-Alpine. Die frühere Verstaatlichten-Krise traf die Problemregion daher besonders schwer.

Auch das Versiegen des Grenzverkehrs und der Verlust des südböhmischen Hinterlandes, mit dem die Bevölkerung jahrhundertelang mannigfache verwandtschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen verbanden, hinterließen nach 1945 deutliche Spuren. Obwohl bei Kriegsende die Amerikaner im Mühlviertel standen, wurde es der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen. Dies bedeutete eine gänzliche Trennung vom südlich der Donau bereits aufwärts strebenden Wirtschaftsraum.

Die letzten Kontakte nach Südböhmen rissen 1968 nach dem Ende des Prager Frühlings endgültig ab. Gerade im Norden des Mühlviertels war man mehr nach Böhmen orientiert als nach Süden, zur Donau, hin. Drüben war Stift Hohenfurth, waren Krumau und Budweis, war das Moldauland, lagen auch inzwischen verschwundene Dörfer mit Verwandten und Bekannten, gab es für manchen verlorengegangenen Besitz. Der Eiserne Vorhang bedeutete für viele das Ende der Welt. Langsam gewöhnten sich die Mühlviertler an diesen Zustand. Wirtschaftliche Investitionen blieben aus. Die jungen Menschen zogen fort.

Im Dezember 1989 passierte bekanntlich das nicht mehr Erwartete doch. Zwei Tage nach der Öffnung der Grenzen war es noch ruhig. Viele Leute aus Südböhmen fuhren nur bis zu den Übergängen, um sich zu vergewissern, ob die Neuigkeit auch tatsächlich wahr sei. Danach hielt die jahrzehntelang eingesperrten Menschen nichts mehr zurück. In Oberösterreich nördlich der Donau herrscht seitdem Aufbruchsstimmung. „Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus geht es mit unserer Gegend aufwärts”, stellt der Freistädter Bürgermeister und Abgeordnete zum Nationalrat, Josef Mühlbachler, im Gespräch mit der FURCHE fest. Vor der Grenzöffnung hatte Österreich zu Tschechien eine negative Handelsbilanz von 1,6 Milliarden Schilling jährlieh. Die Exporte haben sich seither verdreifacht auf 13,6 Milliarden, denen zehn Milliarden Schilling an Importen im letzten Jahr gegenüberstehen. Für das Mühl viertel selbst gibt es kein Zahlenmaterial. „Doch es haben sich zahlreiche Betriebe angesiedelt, und es sind viele Arbeitsplätze entstanden”, unterstreicht Mühlbachler. So haben erst vor einem Monat über 80 Betriebe in der Region einen konkreten Beschäftigungsbedarf von 273 Grenzgängern als Facharbeiter angemeldet. Ein Bedarf, der über den inländischen Arbeitsmarkt nicht abgedeckt werden kann (dazu auch das Gespräch mit LH Pühringer auf Seite 15). Dies wäre vor dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht vorgekommen. Damals waren nördlich der Donau kaum freie Arbeitsplätze vorhanden. „Wir können für die restriktive Ausländerbeschäftigungspolitik des Sozialministeriums und die eingeschränkte Grenzgänger-Regelung kein Verständnis aufbringen. Sie verhindern die wirtschaftliche Entfaltung der Betriebe und das Wirtschaftswachstum”, erklärt Helga Kasper von der Wirtschaftskammer in Rohrbach. Allerdings kamen nicht nur Vorteile auf den Raum zu. So wanderten Teilbereiche von Firmen nach Südböhmen, sogar zwei der größten Unternehmen sind wegen des niedrigen Lohnniveaus umgezogen. Teile der Produktion hat die Firma Kopp aus Aigen, die mit 100 Beschäftigten Elektroinstallationsmate-rial erzeugt, ins tschechische Kaplitz ausgelagert. Auch das Textilunter-nehmen Hammer-Röcke mit 114 Beschäftigten verlegte ihren Betrieb von Rohrbach nach Tschechien.

Große Sorgen bereitet den Menschen schließlich das erhöhte Verkehrsaufkommen. Die Grenzübergänge Wullowitz und Weigetschlag konnten den Ansturm kaum verkraften. 1988 passierten 863.000 Menschen die Grenze an diesen beiden Punkten nach Oberösterreich. Heute sind es 6,2 Millionen. „Wir haben sehr viele Bürger, die sich über diese Lawine beschweren”, merkt der Freistädter Bürgermeister an. Seine Stadt liegt an der Transitstrecke zwischen Linz und Prag.

Seit sechs Jahren wälzt sich ein stinkender und dröhnender Blechwurm durch das Zentrum. Das Überqueren der Hauptstraße gerät für die Frei-städter manchmal zu einem Spießrutenlauf. Bis zu 1.200 Autos zwängen sich stündlich durch das Nadelöhr. Um den Verkehr zu verbannen, soll demnächst eine Umfahrung gebaut werden.

Hinweisschildern gebeten, ihre Skodas und Ladas außerhalb des Stadtkerns zu parken. Während die Bevölkerung unter dem Ansturm leidet, gewinnen die Geschäftsleute ihm Positives ab. Lebensmitteldiskonter preisen in der Bezirksstadt ihre Waren auch auf Tschechisch an. Andere wiederum stellten Verkäufer erst nach dem Besuch eines Tschechischkurses ein. Der Umsatz steigerte sich entsprechend.

Nach der Öffnung der Grenzen jubelten auch die Chefs der Fremdenverkehrsbetriebe. Grund für die Hochstimmung waren weniger die Gäste aus dem nördlichen Nachbarland, denn die konnten sich die teuren Hotelpreise im Mühlviertel kaum leisten. Vor allem Deutsche, Italiener und Franzosen entdeckten das ober-österreichische Grenzlandviertel anfangs als idealen Stützpunkt für einen Besuch in Südböhmen. So stiegen die Übernachtungen in Freistadt nach 1989 um 20 Prozent auf bis zu 35.000 an, ausländische Touristen legten sogar um 35 Prozent zu. Doch die Situation hat sich in den letzten beiden Jahren wieder gewandelt. Denn auch in Südböhmen herrscht Goldgräberstimmung. „Die Tschechen haben leider nicht geschlafen, sondern schnell neue Hotels, die dem westlichen Standard entsprechen, errichtet”, klagt Inge Haghofer, Geschäftsführerin des Fremdenverkehrsverbandes Freistadt und Umgebung. Die Mühlviertler Herbergsbetriebe verzeichnen heute weit weniger Übernachtungen als in den ersten Jahren nach der Grenzöffnung.

Zukünftig wollen die Tourismusbetriebe in den einzelnen Regionen noch besser zusammenarbeiten. Geplant ist unter anderem die Reaktivierung der ehemaligen Pferdeeisenbahn zwischen Linz und Budweis sowie die Wiedererrichtung von Teilen des Schwarzenbergschen Schwemmkanals (Furche 27/1990). Um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit noch besser zu koordinieren, wurde die Euroregion „Bayerischer Wald-Böhmerwald-Mühlviertel” gegründet. Der Freistädter Bezirkshauptmann Hans Zierl zur furche: „Die Völkerverständigung ist in einer Gegend, wo die Menschen jahrzehntelang durch Schlagbäume getrennt wurden, nicht leicht. Es gibt Probleme. Doch wir müssen die Vorurteile überwinden und aufeinander zugehen. Denn die Zukunft kann nur im gemeinsamen Miteinander bewältigt werden.”

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