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Geliebtes Sorgenkind

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Neben den prominenten Landschaften Österreichs fristet das Mühlviertel fast ein Dornröschendasein. Gewiß, es hat von Adalbert Stifter bds zu den Menschen unserer Tage, die sich vor allem nach Ruhe sehnen, seine nie enttäuschten Liebhaber.

Aber es ist nicht allein die Landschaft, es ist auch der Menschenschlag, der das Mühlviertel so anziehend macht: seine bescheidenen, arbeitsamen, verläßlichen Bewohner. Für die Kirche ist das karge Mühlviertel ein fruchtbarer Acker: Zwischen 1906 und 1956 stellte es 27,5 Prozent aller Weltpriester, bei einem Bevölkerungsanteil, der in diesem Zeitraum um 5 und 10 Prozent niedriger lag. Aber auch beim männlichen und weiblichen Ordensnachwuchs schneidet das Mühlviertel nicht ungünstig ab.

Politischer Extremismus uninteressant

Eine Durchleuchtung der letzten Wahlergebnisse zeigt eine' Absage an den politischen Extremismus von links und rechts. Mit einem KP-Anteil von 0,7 und 0,8 Prozent bei den Nationalratswahlen von 1959 und 1956 und mit FPÖ-Stimmen von 2,8 und 1,9 Prozent (geringster Anteil von allen österreichischen Wahlkreisen) wird das deutlich. Anderseits hat die ÖVP im Mühlviertel bisher klar die Zweidrittelgrenze gehalten (66,9 und 68,5 Prozent) und wird mit diesem Anteil ebenfalls von keinem anderen österreichischen Wahlkreis erreicht. (Unmittelbar hinter dem Mühlviertel rangieren als beste österreichische ÖVP-Wahlkreise die Oststeiermark, das Viertel unter dem Manhartsberg, Tirol und Vorarlberg.)

Überlieferte Armut

Das Mühlviertel war immer ein armes Land: Unbedeutende Naturschätze ließen keine nennenswerte Industrie aufkommen. Auch heute, nach einer beispielhaften Industrialisierung Oberösterreichs, gibt es im ganzen Mühlviertel wohl 399 Industriebetriebe, die i insgesamt- - her * 6000 Arbeiter beschäftigen. Der Nettoproduktionswert der nichtlandwirtschaftlichen Betriebe des Mühlviertels macht einen geringfügigen Anteil von nur 5 Prozent am Nettoproduktionswert solcher Betriebe Oberösterreichs aus. Noch drastischer ist aber ein anderer Vergleich: Während der Nettoproduktionswert je Kopf der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung in ganz Oberösterreich (nach der letzten Erfassung 1954) 8450 Schilling betrug, machte er im Mühlviertel weniger als die Hälfte, nämlich 4213 Schilling, aus!

Nicht viel günstiger ist die Situation im Gewerbe: Während die Gesamtzahl der ausgeübten Gewerbeberechtigungen in Oberösterreich zwischen 1949 und 1957 um 8,5 Prozent zurückgegangen ist, nahm sie im Mühlviertel, um 12,5 Prozent (von 3878 auf 3398) ab.

Erst recht ungünstig ist die Situation der Landwirtschaft, bedingt durch den kargen, humus- und nährstoffarmen Boden und die geringen, ungünstig verteilten Niederschläge. Bei einem durchschnittlichen Einheitswert von 7600 Schilling je Hektar in den Mittellagen Oberösterreichs, sinkt im Mühlviertel der Einheitswert meist unter 3800 Schilling je Hektar. Zwischen 1951 und 1957 hat im Mühlviertel die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe um 1,7 Prozent abgenommen.

Das sind nur einige Zahlenangaben, die beliebig - und auf den verschiedensten Gebieten - erweitert und ergänzt werden könnten. Die Gefahr besteht dabei allerdings, daß schon beim Erwähnen dieser Zahlen der Verdacht aufkommt, es handle sich um einen billigen Propagandaeffekt, um besser an die Bundesmittel für die österreichischen Entwicklungsgebiete heranzukommen.

Alte Sorgen — neue Probleme

Tatsächlich ist das Problem weit größer und ernster und keineswegs nur wirtschaftlich und finanziell; und wenn auch seit Abzug der russischen Besatzungsmacht viel aufgeholt werden konnte, so sind doch gleichzeitig neue, bedrohliche Probleme und Entwicklungstendenzen hinzugekommen,die es zu erkennen gilt: im Mühlviertel selbst, in Oberösterreichs Landeshauptstadt, nicht zuletzt aber auch in Wien. Das wäre an sich nicht allzu schwierig, denn der statistische Dienst des Amtes der oberösterreichischen Landesregierung unter Leitung von Dr. Lackinger befaßt sich besonders ausführlich mit der Sonderentwicklung des Mühlviertels; das im Auftrag des Vereins zur Förderung der Wirtschaft des Mühlviertels erstellte „Entwicklungsprogramm Mühlviertel“ hat in einer außerordentlich gründlichen, durch eine Fülle von Karten und Diagrammen ergänzten Studie wertvolles Material zusammengetragen, und gerade jetzt befaßt sich eine Reihe von Dissertationen mit Sonderproblemen des Mühlviertels.

Gewiß, die Bevölkerung des Mühlviertels weist seit der Jahrhundertwende ein stetes, wenn auch langsames Ansteigen auf, das man eher ein Stagnieren bezeichnen könnte (von 184.633 im Jahre 1900 auf 196.009 im Jahre 1961). Beim rasanten Ansteigen der Gesamtbevölkerung Oberösterreichs, vor allem nach dem zweiten Weltkrieg, wurde der Mühl-viertler Anteil an der oberösterreichischen Bevölkerung Schritt für Schritt kleiner. Schon um die Jahrhundertwende machte der Anteil der Mühl-viertler Bevölkerung schon etwas weniger als ein Viertel aus (22,8 Prozent), rutschte 1951 auf 17 und 1957 auf 16,5 Prozent, um 1961 wieder knapp über 17 Prozent zu liegen.

Diese Entwicklung ist deshalb so tragisch, weil das Mühlviertel mit einer Geburtenrate von 23,4 Promille zu den geburtenreichsten Gegenden Österreichs überhaupt zählt. In einzelnen Gemeinden ist die Geburtenrate übrigens noch weit höher und erreicht sogar 36 Promille!

Diese so zwiespältige Situation ist aber um so bedenklicher, als hier ohne Zwangsmaßnahmen ein österreichisches Grenzgebiet entvölkert wird. Noch sind sehr gründliche Untersuchungen im laufen, die ersten Ergebnisse zeigen ein wenig erfreuliches Bild: In einem 25 Kilometer breiten Streifen entlang der böhmischen Grenze stehen mehr als 300 Häuser, meist Bauernhäuser, leer, gewiß manche nur vorübergehend oder aus zeitbedingten Gründen,

„Pendler“ - Glück im Unglück

Das in der Nachkriegszeit lästig empfundene Pendlerproblem zeigt sich jetzt von einer anderen Seite. Hätten nämlich alle Mühlviertler Pendler im oberösterreichischen Zentralraum auch eine entsprechende Unterkunft gefunden, würden die heutigen Statistiken über die Entvölkerung weiter Gebiete des Mühlviertels noch viel trostloser aussehen!

Nach dem Ausbau der Linzer Großbetriebe, vor allem nach dem Weggang der ausländfischen Arbeiter bis Ende des zweiten Weltkrieges, war das Mühlviertel nicht nur geographisch das ideale Hinterland des neuen Linzer Industrieraumes, hier lagen auch die entscheidendsten Arbeitskraftreserven. Die Zahl der Mühlviertler Pendler, die in Linz arbeiten, schnellte von rund 1000 im Jahre 1940 auf mehr als 10.000 im Jahre 1957! Insgesamt leben rund 22.000 im Mühlviertel heimische Personen von den ihnen in Linz gebotenen Arbeitsmöglichkeiten, das sind mehr als 10 Prozent der Mühlviertler Bevölkerung.

Nun ist die soziale Situation der Pendler an sich nicht ungünstig; sie haben die Vorteile des Industriearbeiters und manche Vorteile der ländlichen Umgebung, in der sie wohnen: Ein sehr hoher Prozentsatz der Pendler wohnt im eigenen Haus oder im Haus der Eltern (fast 65 Prozent!), bei einem Drittel dieser ist eine eigene Landwirtschaft angeschlossen. Aber auch jene Pendler, die eine Miete zahlen müssen, sind ungleich besser als in der Stadt gestellt, denn die Durchschnirtsmiete dieser Pendler macht nur 78 Schilling monatlich aus, und nur ein verschwindender Prozentsatz (3,5 Prozent) aller Pendler kommt auf eine Miete von mehr als 200 Schilling, die für den in der Stadt lebenden Arbeiter selbstverständlich ist.

Immerhin ist man heute bereits im Begriff, das Pendlerproblem mit anderen Augen als noch vor Jahren zu betrachten. Ein weiterer Ausbau des an sich schon nicht ungünstigen Straßennetzes des Mühlviertels, vor allem aber eine weit günstigere Gestaltung des Verkehrswesens könnten weit mehr helfen, als mancher problematische und teure Wohnungsbau. Zweifellos würde es eine volkswirtschaftliche Fehlplanung ersten Ranges sein, gigantische Summen in den Wohnungsbau der Städte zu investieren, gleichzeitig aber eine immer größere Menge von Häusern am Land leerstehen und verfallen zu lassen. Für die österreichischen Grenzgebiete wie für das Mühlviertel wäre es weit mehr als nur eine wirtschaftliche Fehlplanung!

Experimentierfeld der Landesverteidigung

Das Mühlviertel mit seinen Auslandsgrenzen nach West, Nord und Ost wurde auch Experimentierfeld der Landesverteidigung. Hier wurden vor Jahresfrist die ersten Grenzschutzkom-panien und anschließend in Rohrbach das erste Grenzschutzbataillon aufgestellt, wobei die Erfahrungen durchweg positiv zu sein scheinen.

Eine besondere Sorgfalt hat man vor allem nach dem zweiten Weltkrieg dem Ausbau des Schulwesens gewidmet.' Nebe aW^fentlichen Volksschulen verfügt das Mühlviertel über 22 Hauptschulen, von denen 13, also mehr als die Hälfte, nach 1945 errichtet wurden. Zahlreiche Schulneubauten zeugen gleichzeitig für das Interesse und die Initiative der Gemeinden. Für die rund 190.000 Einwohner des Mühlviertels gibt es aber nur eine Mittelschule (in Freistadt), hinzuzuzählen ist auch noch das Bischöfliche Knabenseminar „Kollegium Petrinum' in Urfahr. Eben sind auch die ersten Schritte für die Gründung eines weiteren Gymnasiums in Rohrbach erfolgt, doch wird es noch rund ein Jahrzehnt dauern, bis die komplette Mittelschule zur Verfügung stehen wird.

All diese Hinweise und Zahlen zeigen, daß im Mühlviertel Erfreuliches und Unerfreuliches, daß Leistungen und Lücken dicht nebeneinander liegen. Gewiß ist auf wirtschaftlichem Gebiet, bei der Errichtung neuer Industrien und Wirtschaftsbetriebe, beim systematischen und zukunftsreichen Ausbau des Fremdenverkehrs noch manches zu tun, man wird aber auch behutsam zu Werk gehen müssen, sonst kann der Schaden größer als der Nutzen sein.

Nicht nur die Wirtschaft

Eines aber wurde bis zum heutigen Tag vielfach nicht erkannt: daß die Hauptsorgen und -aufgaben nicht allein, vielleicht gar nicht in erster Linie, im Wirtschaftlichen liegen. Es muß auch keineswegs nur im Bewußtsein der Mühlviertler, sondern in dem aller Oberösterreicher fest der Grundsatz verwurzelt werden, daß es unmöglich und untragbar ist, wenn in unserer Gegenwart leere oder fast unbewohnte Gebiete, vor allem entlang der Grenze, entstehen, wobei es auch kaum einen Trost darstellen kann, wenn manche dieser leerstehenden Häuser Wochenendhäuser, wenn Teile des Landes nichts als nur Erholungsräume werden. Bei Betrachtung der vielen kleinen, lächerlichen Alltagssorgen, die heute das innerpolitische Klima Österreichs so belasten, bekommt man das Gefühl, daß ein Großteil der Bevölkerung die wirklich großen Sorgen und Gefährdungen — etwa die hier erwähnten — nicht kennt, nicht sehen oder nicht zur Kenntnis nehmen will.

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