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Wien wird nie Chicago

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Wieviel Zuwande-rer braucht die Stadt? Wer heute in Wien diese Frage stellt, bekommt alles mögliche zu hören, nur keine positive Antwort. Denn in den Metropolen unseres Kontinents ist eine Mehrheit der stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger gegen weitere Zuwanderung aus dem Ausland. Manche würden am liebsten auch jene wieder heimschicken, die in den letzten Jahrzehnten zu uns kamen, oder die wir selbst hierher geholt haben. Migranten erscheinen einem Teil der Einheimischen als Bedrohung. Sie sind Auslöser von Zukunftsängsten. Sie sind zugleich eine Manövriermasse der Politik. Und sie werden für eine Reihe von Defiziten unserer Gesellschaft verantwortlich gemacht. Manchmal geschieht dies zu Becht. Aber viel häufiger müssen sie als Sündenböcke herhalten.

Die Anti-Ausländer-Politik gibt vor, aktuelle Probleme unserer Gesellschaft lösen zu können. Damit lenkt sie zugleich von hausgemachten Defiziten ab. Denn gewaltbereite Jugendliche, steigende Arbeitslosigkeit, Drogenkriminalität und zu wenige erschwingliche Wohnungen gäbe es in Wien auch dann, wenn in den letzten zehn Jahren niemand eingewandert wäre. Trotzdem können sich all jene, die Zuwanderer dafür verantwortlich machen und nach einer dichten Grenze rufen, der Zustimmung der schweigenden Mehrheit und einer lautstarken Minderheit relativ sicher sein.

Der Stand der Dinge macht es schwer, über Einwanderung nüchtern zu diskutieren. Das liegt offenbar schon am Wort. Es ist emotional „besetzt”. Denn Einwanderung suggeriert sowohl eine Einbahnstraße, die auf uns zuläuft, als auch etwas Endgültiges. Eines unserer Hauptproble-

Ohne Zuwanderung wäre Wien keine europäische Metropole von Rang geworden, ohne Zuwanderung kann es auch keine Metropole bleiben.

unserem Selbstverständnis als einer Stadt aus lauter seßhaften Bürgern und der Bealität. Ohne die Zuwanderer von gestern wäre Wien keine europäische Metropole von Bang geworden, sondern eine barocke Residenzstadt wie etwa Salzburg geblieben. Und ohne Zuwanderer kann Wien auch keine Metropole bleiben. Denn in Wien gibt es Jahr für Jahr deutlich mehr Sterbefälle als Geburten. Folglich wäre Wien ohne die Zuwanderer von heute und morgen irgendwann im 21. Jahrhundert keine Millionenstadt mehr. Außerdem leben attraktive Städte vom Potential, das aktive Zuwanderer mitbringen.

Die Konsequenzen eines totalen Zuwanderungsstopps wollen die wenigsten wahrhaben. Weniger Einwohner bedeuten automatisch weniger Dynamik, weniger Kaufkraft, weniger Innovation, weniger Mittel aus dem Finanzausgleich, weniger politisches Gewicht. Auch als Wirtschaftsstandort würde eine schrumpfende Ostregion mit Wien als Zentrum schrittweise an Bedeutung verlieren. Es ist schon im Interesse der Einheimischen zu wünschen, daß es dazu nicht kommt. Statt einer schrumpfenden Einwohnerzahl braucht Wien auch in Zukunft ein gewisses Maß an Zuwanderung. Dies zu regeln und für einen Urbanen Umgang von Einheimischen und neu Hinzukommenden zu sorgen, ist für die Zukunft Wiens entscheidend.

Hauptziel jeder verantwortungsvollen Migrationspolitik muß es sein, die Zuwanderung zu steuern, aber nicht zu verhindern. Und es muß darum gehen, jene Migranten zu integrieren, die auf Dauer im Land bleiben wollen. Letzteres wurde bei vielen in Wien lebenden Arbeitsmigranten aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei und Ost-Mitteleuropa verabsäumt. Im Gegensatz zu den böhmischen, polnischen und dalmatinischen Zuwanderern der Jahre 1850-1914 kamen die meisten „ Gastarbeiter” der sechziger und siebziger Jahre ursprünglich nicht mit der Perspektive, sich in Wien endgültig niederzulassen. Viele wurden erst nachträglich zu Einwanderern, holten ihre Familien nach oder gründeten eine Familie. Die meisten von ihnen werden bis zur Pensionierung oder auf Dauer dableiben und das Erscheinungsbild Wiens mitprägen, ohne den Charakter der Stadt grundlegend zu verändern. Aus Wien wird daher mit Sicherheit nie Chicago werden, aber auch nicht Relgrad oder Istanbul.

Trotz langer Anwesenheit in Wien sind die meisten Zuwanderer aus dem Ausland nach wie vor ausländische Staatsbürger. Gleiches gilt für viele in Wien geborene Kinder ausländischer Zuwanderer. Sie besitzen daher kein Wahlrecht und dürfen weder bei Nationalratswahlen noch bei Gemeinderatswahlen ihre Stimme abgeben. Sie können nicht Reamte werden, in keine Gemeindewohnung ziehen und an ihrem Arbeitsplatz nicht zum Re-triebsrat gewählt werden. Sie können die Arbeitsgenehmigung verlieren oder erst gar keine bekommen. Ja, sie können unter Umständen auch gegen ihren Willen wieder in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden. All das bewirkt Unsicherheit und zwingt viele Ausländer unnötigerweise zu emotionaler Ambivalenz zwischen alter Heimat und neuer Existenz in Wien. Viele führen notgedrungen ein lieben zwischen zwei Welten.

Die wünschenswerte Alternative heißt: Integration. Als „Preis” dafür gilt in der Regel die Aufgabe der mitgebrachten ethnischen und kulturellen Identität. Für die betroffenen Migranten und ihre Kinder ist dies ein Verlust und zugleich ein Vorteil. Denn Assimilation reduziert soziale Diskriminierung im Alltag und vergrößert die Chance des beruflichen Aufstiegs zumindest für die zweite Generation. Doch zu diesem Aufstieg wird es nur kommen, wenn wir den Migranten und ihren Kindern dazu die Möglichkeit geben.

Wenn die Integration gelingt, bedeutet Zuwanderung einen Gewinn für die Stadtgesellschaft. Denn Migranten sind in der Regel fleißig, sparsam und aufstiegsorientiert. Wer sich nicht verbessern will, nimmt nämlich in der Regel die Mühen der Emigration erst gar nicht auf sich. Trotzdem wäre es naiv, Einwanderung für einen konfliktfreien Prozeß zu halten. Häufig prallen unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinander. Das Gefühl, von den Einheimischen nicht akzeptiert zu werden, führt manchmal zu scharf konturierten Gegenidentitäten.

Gelungene Integration von Zuwanderern ist in erster Linie eine Leistung derer, die sich erfolgreich an die neuen Lebensumstände anpassen. Doch sie benötigen dazu eine aufnehmende Gesellschaft, die Integration zuläßt. Aufgabe von Kommunalpolitik ist dabei auf jeden Fall die Schaffung geeigneter Rahmenbedingun gen. Dabei geht es nicht nur um Toleranz im Alltag, sondern um ganz konkrete Maßnahmen: gegen Diskriminierung von Migranten, gegen die „Schmutzkonkurrenz” ausländischer Arbeitskräfte gegenüber inländischen Arbeitskräften, gegen die Verdrängung von Ausländern in die Illegalität, gegen unzumutbare Wohnbedingungen und die Entstehung ethnischer Ghettos.

Großstädte sind auf Einheimische wie auf Zuwanderer angewiesen. Die neu Hinzugekommenen zu einem Restandteil der Stadt zu machen, sollte ein erklärtes Ziel von Stadtpolitik sein. Aus Zuwanderern müssen Stadtbürger werden. Sonst entsteht eine entlang ethnischer Grenzen gespaltene Stadtgesellschaft. Sie wäre das Gegenteil kosmopolitischer Vielfalt.

Der Autor,

geb. 19S4, ist Auslandsösterreicher und lehrt als Professorfür Hevölkerungs-wissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin.

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