Neue Narrative über Migration und Flucht

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Selbstzufrieden wollen zu viele von der anstehenden Aufgabe nicht gestört werden: sich der gemeinsamen Integration in eine neue, inklusive Gesellschaft zu stellen.

Dem politischen Diskurs in Österreich ist es spätestens mit dem Herbst 2015 gelungen, Migration und Flucht durch permanente Assoziation mit Illegalität schrittweise zu kriminalisieren. Menschen mit Migrationsund Fluchtgeschichte bleibt das Stigma des Fremden und Nicht-Zugehörigen. "Sie" bedrohen Österreichs Wohlstand, Ordnung und Sicherheit.

Die schleichende Verschiebung der ethischen Standards der Rede über Migrantinnen und geflüchtete Menschen, manifest in der konsequenten Reduktion ihrer Rechte, lässt sich freilich schon seit den 90er-Jahren beobachten, insbesondere seit der konsequenten Übernahme rechtspopulistischer Positionen durch die Mainstream-Parteien.

So wurde im Sprachgebrauch aus dem Gastarbeiter und Ausländer der Flüchtling, vom Migranten kaum zu unterscheiden. Beide sind in der Wahrnehmung zu Muslimen mutiert, die unter stetem Verdacht stehen, Islamisten, vielleicht sogar Terroristen zu sein. Dass es verschiedene Arten von Migration und Flucht gibt; dass die Mehrheit der Migranten in Österreich Christen sind; dass im Islam aktuell intern konfliktive (auch theologische) Veränderungen stattfinden: Wen kümmern solche Differenzierungen?

Attacke auf die Demokratie

Bis weit hinein in die Gesellschaft -auch in die formal hoch gebildete Mittel-und Oberschicht - hat diese rechtspopulistische Sichtweise in Österreich mittlerweile vermutlich die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Sein demokratiegefährdender Kern: der moralische Alleinvertretungsanspruch, "das Volk","das Land" und "die Menschen" zu repräsentieren. So wird das Zentrum der Demokratie attackiert: die Pluralität der Zugänge durch produktiven Konflikt um des Zusammenlebens willen fruchtbar zu machen und die Perspektiven auch der migrantischen Mitbürgerinnen, einzubeziehen und zu schützen.

Selbstzufrieden und in Siegespose wollen zu viele von der anstehenden Aufgabe nicht gestört werden: sich der gemeinsamen Integration in eine neue, inklusive Gesellschaft zu stellen, die Migrantinnen und geflüchteten Menschen, aber auch Einheimischen abverlangt werden wird. Auch eine geschlossene Balkanroute wird nichts daran ändern, dass wir vor einer Jahrhundertherausforderung stehen, für die es keine einfachen Lösungen gibt und die die Gestalt Europas verändern wird. Wer in Wien lebt, kann in der kulturellen, religiösen und sprachlichen Vielfalt von Kindern und jungen Menschen diese Zukunft heute schon wahrnehmen. Doch wer nimmt deren Interessen ernst?

Wer in diesem Klima versucht, über Migration und Flucht einen anderen, sinnorientierten, "positiven" Narrativ zu entwickeln, kommt so rasch in den Ruf, ein naiver, verantwortungsloser Gesinnungsethiker zu sein. Menschen, die sich im Bereich der Fluchthilfe und Integration engagieren, müssen sich zunehmend öfters rechtfertigen.

Emotionalisierung und Moralisierung der Politik werden kritisiert, wohlgemerkt: ausschließlich jene der "Gutmenschen", nicht die Politik der Angst der Anderen. Verschärfend werden derzeit auch die Probleme jahrzehntelanger verabsäumter Integrations-und Exklusionspolitik benannt: Segregierte Moscheen, ein trotz (oder wegen?) des Islamgesetzes ungebrochener Einfluss des Auslandes auf islamische communities, Imame, die gegen Integration predigen.

Das ist eine explosive Gemengelage, die die soziale Kohäsion in Österreich massiv bedroht. Wer wird sich um die nach der Wahl nötigen Aufräumarbeiten mit Blick auf das soziale Klima kümmern?

Die großen Herausforderungen

Um die Herausforderungen zu bestehen -die Integration geflüchteter Menschen, der Aufbau inklusiver Strukturen der Institutionen einer Migrationsgesellschaft -benötigen wir dringend sinnorientierte, "positive" Narrative über Migration und Flucht.

Wir brauchen Geschichten, Narrative, Visionen und Bilder der Zukunft, die uns einen langen Atem ermöglichen. Die Theologie kann in diesem Zusammenhang an die Migrations-Narrative der Bibel erinnern. Denn der ethische Monotheismus der Heiligen Schrift wurde nicht von Philosophen erfunden, sondern durch Lernprozesse im Kontext von Exil und Diaspora, Flucht und Vertreibung, Aufbruch und Wanderschaft entwickelt. Migrationserfahrungen wurde mühsam positiver Sinn abgerungen. Sie wurden zu Lernorten des Glaubens und ließen Visionen gerechter Gesellschaften entwerfen, die ihre ethische Qualität an der Lebenssituation der Marginalisierten bemessen.

Auch die katastrophischen Erfahrungen im Hintergrund, etwa jene der Gemeinden der Evangelien -der Krieg gegen die Römer, die Zerstörung des Tempels, Verfolgung und Massenkreuzigungen im Imperium Romanum -wurden mithilfe der Erinnerungen an diese Geschichte überstanden. Migration wurde zum Ort des Lernens, wie das Zusammenleben in Verschiedenheit, Gerechtigkeit und Frieden gestaltet werden kann. Eine Aufgabe, vor der auch Österreich heute steht, wenn sich die psychologischen Folgen von Migration und Flucht nicht in den nächsten Generationen nicht negativ auswirken sollen.

PS: Auch zum Auszug der Hebräer aus dem "Sklavenhaus Ägypten" - dem Exodus -gibt es plurale Narrative. So berichtet der ägyptische Historiograf Manetho von der erfolgreichen Vertreibung dieser hebräischen "Schädlinge", die Wohlstand, Ordnung und Sicherheit Ägyptens bedroht hätten. Weltweit Geschichte gemacht hat freilich der Narrativ der geflüchteten "Vertriebenen": der Exodus als Geschichte der Befreiung durch Gott aus einem religiös und politisch unterdrückerischen System, gelernt im Kontext von Flucht und Migration.

| Die Autorin ist Assoz. Prof. am Institut für Prakt. Theologie der Universität Wien |

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