Begegnungsort und Schmelztiegel Wien

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Flucht und Migration sind - sogar im globalen Maßstab - keine neuen Phänomene. Die plurale Migrationsgesellschaft ist auch in Österreich längst Realität. Dennoch scheint aktuell die Angst vor "dem Unbekannten" und vor kulturellen Konflikten groß. Corinna Metz hat daher ein Buch darüber geschrieben, welche Chancen Zuwanderung für eine Stadt mit sich bringt.

HUBERT CHRISTIAN EHALT: Das Thema Migration ist hoch aktuell, in der öffentlichen Debatte sowie im täglichen Leben. Welche Relevanz hat das Buch für die aktuelle Auseinandersetzung mit der Thematik?

Corinna Metz: Durchaus eine sehr hohe. Österreich und Europa sehen sich mit den Auswirkungen eines als "Flüchtlingskrise" wahrgenommenen Zuzugs von Asylsuchenden konfrontiert. Daher ist es notwendig, sich mit dem interkulturellen Zusammenleben bzw. mit Inklusion auseinanderzusetzen. Allein im Jahr 2016 kamen 1,2 Millionen Asylsuchende nach Europa, 40.000 davon nach Österreich. Doch die letzte vergleichbare Herausforderung für Österreich und Wien im Speziellen, die Fluchtbewegung von 115.000 Menschen in Folge des Jugoslawien-Kriegs in den 90er-Jahren, zeigt rückblickend, dass Krisenzeiten auch neue Chancen aufwerfen. Ganz besonders, wenn man aus den Erfahrungen lernt. In Österreich gab es viel Solidarität mit den Geflüchteten, durch kulturelle Begegnungen kam es zu Kooperationen in unterschiedlichen Bereichen. Viele Einzelaspekte werden in meinem Buch beleuchtet: die Entstehung der Balkan-Gemeinden, die geistigen, künstlerischen, wissenschaftlichen, kulinarischen sowie sportlichen Beiträge, wirtschaftliche Aspekte von Migration, soziale und humanitäre Initiativen oder die politische Bedeutung der Zuwanderung für die Stadt Wien.

EHALT: Wien gilt in der "longue durée" als Ort des Zusammentreffens unterschiedlicher Kulturen. Wie hat das Kultur und Gesellschaft in Wien geprägt?

Metz: Wien war seit jeher ein Begegnungsort und Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen, wofür geografische, politische und kulturelle Faktoren maßgeblich waren. Zur Zeit der Habsburgermonarchie war Wien die Haupt-und Residenzstadt von Menschen mit verschiedenem kulturellen Hintergrund und unterschiedlichen Herkunftsmilieus. Es war ein Zusammentreffen der unterschiedlichen Sprachen, Riten, Symbole, Habitus und Kunststile, das zu wechselseitigen Einflüssen führte.

EHALT: Wie sieht die gesellschaftliche Bereicherung durch die Zuwanderung aus den Balkanstaaten konkret aus?

Metz: Während es, wie erwähnt, schon seit Jahrhunderten zum Aufeinandertreffen von Kultur und Sprache kommt, haben sich andere Phänomene erst durch den Zuzug der GastarbeiterInnen bzw. durch die Fluchtbewegungen vom Balkan etabliert. Es sind unzählige Beiträge und Initiativen, die im Buch beschrieben werden. Einerseits jene, die man bewusst wahrnimmt wie den interkulturellen Dialog im KunstSozialRaum "Brunnenpassage" oder das Angebot an Balkan-Kulinarik in Wien. Andererseits auch die Bereicherung durch MigrantInnen, die von der Öffentlichkeit nicht als solche erkannt, jedoch geschätzt wird: Kunst, Wissenschaft und Unternehmertum von Personen mit Balkan-Herkunft, NGOs und Bildungsangebote mit Bezug zur Region sowie herausragende Sporterfolge oder Modetrends.

EHALT: Sollten diese Erkenntnisse stärker in die Integrationsdebatte einfließen? Metz: MigrantInnen in verschiedener Generation machen einen großen Anteil der Wiener Bevölkerung aus und leisten -wie auch die Aufnahmegesellschaft selbst -einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Stadt. Das setzt die Integrations-oder sogar Inklusionsbereitschaft auf beiden Seiten voraus. Das Miteinander von Menschen mit verschiedener Herkunft hat Wien zu einem multikulturellen Ort gemacht. Ohne Nachteile von Migration negieren zu wollen, wäre es aber durchaus angebracht, die positiven Aspekte stärker in den Fokus der Diskussion zu rücken. Gegenseitige Vorurteile können nur durch Kennenlernen überwunden werden.

EHALT: Sie haben das Thema Vorurteile erwähnt. Im Buch schreiben Sie, dass es Ihr Anliegen ist, gesellschaftliche Ressentiments abzubauen.

Metz: Richtig. Der bekannte Schauspieler Sir Peter Ustinov schrieb einmal über das Vorurteil: "Es ist verantwortlich für die Missverständnisse zwischen Nationen und Religionen. Als Waffe benutzt es die blanke Unkenntnis." Daher soll das Buch zu einem besseren Verständnis beitragen und aufzeigen, dass Migration -egal ob sie durch Flucht, Arbeitssuche oder aus persönlichen Erwägungen erfolgt -sowohl Vorteile für die MigrantInnen als auch für die Aufnahmegesellschaft haben kann. In meinem Buch habe ich nicht nur Zahlen und Fakten dargestellt, sondern auch persönlich erinnerte Migrationsgeschichten, um die Komplexität und Dynamik von Migration zu zeigen. Wie immer die Globalisierung sich in den nächsten Jahrzehnten entwickelt, die Welt wächst zusammen, und Migration ist Normalität.

Zwischen Österreich und dem Balkan besteht eine historische Verbundenheit. Migrationsbewegungen nach Wien waren Meilensteine zur Verdichtung der Beziehungen und für die Multikulturalität der Stadt.

Corinna Metz

Die 1986 geborene Politologin, Konflikt-und Sozialforscherin hat zum Balkan-und Nah-Ost-Konflikt dissertiert.

Die Serie "Enzyklopädie des Wiener Wissens" erscheint in Kooperation mit den Wiener Vorlesungen. www.wienervorlesungen.at

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