"Anregungen für ein neues Weltbild"

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Das große Interesse älterer Menschen ist positiv zu sehen: Durch Bildung erhalten die 'gewonnenen Jahre' neue Ziele, Aufgaben und Perspektiven.

Hubert Christian Ehalt ist leicht gestresst, denn er räumt gerade sein Büro nahe des Wiener Rathauses. Seit 30 Jahren betreut der 68-Jährige die Wiener Vorlesungen, ab November übernimmt sein Nachfolger Daniel Löcker. Die FURCHE traf den vielseitigen Intellektuellen zum "Abschiedsinterview".

DIE FURCHE: Was ist die Essenz Ihres Rückblicks auf 30 Jahre "Wiener Vorlesungen"?

Hubert Christian Ehalt: Es bleibt ein Blick auf über 30 Jahre Nachdenk-,Gestaltungsund Organisationsarbeit für ein intellektuelles Projekt, das ich mit "Herz und Seele" kuratiert habe. 1500 Veranstaltungen mit herausragenden Forschern sind von weit mehr als einer halben Million Menschen besucht worden. In über 300 Publikationen der Wiener Vorlesungen wurden Ergebnisse vermittelt. Zudem wurden mit Radio-und TV-Kooperationen ein paar Millionen Menschen Wissenschaft und Forschung näher gebracht. Die Wiener Vorlesungen haben die Freude an der intellektuellen Auseinandersetzung zu einem Zeitpunkt aufgenommen, als der Fortschritt der Forschung besonders dynamisch war und Bildung und Wissenschaft zur unabdingbaren Voraussetzung von Karriere und beruflichem Aufstieg geworden sind. Dadurch sind Menschen in jedem Alter mit einem umfassenden Wissens-und Bildungsprogramm konfrontiert worden; bisweilen haben sie Anregungen für ein neues Weltbild bekommen. Salopp hat das der Dadaist Francis Picabia formuliert: "Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann".

DIE FURCHE: Auf welche Gäste der Wiener Vorlesungen waren Sie besonders stolz?

Ehalt: Es war mir ein Anliegen, bedeutende Denker, die das Weltbild aktueller Aufklärung und Kritik mit pointierten Begriffen geprägt haben, nach Wien zu bringen -etwa Jürgen Habermas zu "Erkenntnis und Interesse", Richard Sennett zum "flexiblen Menschen", Pierre Bourdieu zu einer "neuen europäischen Aufklärung" oder Christina von Braun zum "modernen Geld". Wissenschafter vermögen neues Wissen über die Welt zu gestalten und auf den Punkt zu bringen; das hat viel mit Offenheit zu tun. Die Fähigkeit, die Welt, ihre Mechanismen und den Menschen als ihren "Maschinisten" mit Offenheit gegenüberzutreten, ist eng mit Humor verbunden. Der Umgang mit den Vortragenden war für mich auch daher stets ein großes Vergnügen.

DIE FURCHE: Wie haben sich die intellektuellen Debatten in den 30 Jahren verändert?

Ehalt: Das Interesse an der Arbeit der erfolgreichen Naturwissenschaften ist in der Kunst-und Kulturstadt Wien entscheidend gewachsen und hat in den letzten zwanzig Jahren das Interesse für die "Humanities" deutlich überholt. Die Erfolge der Molekularbiologie stimulieren Forschungen, die in den 1980er-Jahren vermutlich als reduktionistisch gegolten hätten. Die gute Nachricht betrifft interessante neue Kooperationen über einzelne Fächer hinweg. Seit den 1990er-Jahren gewinnt die Interdisziplinarität zwischen den Kultur-und Naturwissenschaften an Bedeutung.

DIE FURCHE: Wie sehen Sie generell die Bedeutung der Wissensvermittlung und Wissenschaftskommunikation?

Ehalt: Bis Ende der 1970er-Jahre hatte die Verbreitung wissenschaftlicher Ergebnisse keine große Öffentlichkeit. Erfolgreiche Forscher hielten sich oft bewusst aus Diskussionen in den Medien heraus. Vor allem das Internet und seine Instrumente haben die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit immer wichtiger werden lassen. In der Wissenschaft herrscht eine zugespitzte "Ökonomie der Aufmerksamkeit", in der nur jene Forscher eine Rolle spielen, die mit interessanten Ergebnissen aufwarten können. Wissenschaftskommunikation befeuert die Lösung großer Probleme - man denke etwa an den Klimawandel -und stärkt ein konstruktives Weltbild, um drängende Fragen durch Wissenschaft zu lösen.

DIE FURCHE: Woran sollte sich Bildungs-und Forschungspolitik heute orientieren?

Ehalt: Die Welt braucht gut ausgebildete Bürger, deren Fähigkeiten stärker als bisher auch die Ausbildung sozialer Kompetenzen ermöglichen. Bisweilen hat man den Eindruck, dass es in den Bildungsinstitutionen und Arbeitswelten vor allem um ausgezeichnet ausgebildete "Einzelkämpfer" geht. Für Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit wird es jedoch wichtig sein, die Eigenschaften zu stärken, die für ein friedliches, kollegiales und solidarisches Zusammenwirken notwendig sind.

Das Problem des mangelnden jugendlichen Interesses an Bildungsinhalten liegt in aktuellen Bildungskonzeptionen, die den Menschen oft auf einen 'homo oeconomicus' reduzieren.

DIE FURCHE: Welche Rolle kommt den Geistesund Kulturwissenschaften in unserer technologieversessenen Zeit zu?

Ehalt: Auch Kooperationsfähigkeit, Kollegialität und Solidarität können gelernt werden -nicht nur technologische Kompetenz. Die Humanwissenschaften stehen vor allem auch für Kritik, für das Projekt der "Aufklärung", für soziale Innovation. Die Welt, ihre Entwicklungen, Möglichkeiten und Lösungen sind so komplex, dass die Forderung der Aufklärung, sich auf das Wagnis des Wissens einzulassen -das heißt auch, auf jeden Fundamentalismus in Forschungsentwurf und Methode zu verzichten -, immer notwendiger wird.

DIE FURCHE: Von Wissens-und Bildungsveranstaltungen wie den Wiener Vorlesungen wird oft ein älteres Publikum angezogen. Heißt das, dass diese Veranstaltungen in gewisser Weise "altmodisch" sind -oder in unserer schnelllebigen und oberflächlichen Zeit gar vom Aussterben bedroht?

Ehalt: Mein Befund ist hier sehr ambivalent. Junge Menschen haben es heute schwer, im Berufsleben Fuß zu fassen und können sich weniger Zeit für außerberufliche Aktivitäten nehmen -das geschieht sicher nicht aus mangelndem Interesse. Sie interessieren sich stark für die Kritik traditioneller und die Entwicklung neuer Lebensformen. Bei meinen universitären Lehrveranstaltungen gibt es ein an Theorie, Kritik und sozialer Innovation hoch interessiertes Publikum -und durchwegs anspruchsvolle Diskussionen. Das große Interesse älterer Menschen an Vortrags-und Diskussionsveranstaltungen ist übrigens sehr positiv zu beurteilen. Durch Bildung erhalten die "gewonnenen Jahre" neue Perspektiven, Aufgaben und Ziele. Gerade von den älteren Teilnehmern kommen oft innovative Anregungen und Diskussionsbeiträge.

DIE FURCHE: Wie könnte man verstärkt ein jüngeres Publikum gewinnen?

Ehalt: Wenn ich an die Wiener Vorlesungen denke, dann waren es gerade Vorträge von kritischen Denkern wie Jean Ziegler, die viele junge Menschen angezogen haben. Ich sehe das Problem mangelnden jugendlichen Interesses an Bildungsinhalten eher in aktuellen Bildungskonzeptionen, die den Menschen auf einen "homo oeconomicus" reduzieren, dessen Zielsetzung ausschließlich wirtschaftlicher Erfolg ist. Es gibt großes Interesse an einer kritischen Geistes-, Sozial-und Kulturwissenschaft, und es gibt ausgezeichnete Wissenschafter, die dieses Interesse auch wecken können. Die Chancen für eine offene Gestaltung der Welt durch die Bürger sind heute besser denn je.

Hubert C. Ehalt

Der Professor für Sozial-und Kulturgeschichte war von 1984 bis 2016 Wissenschaftsreferent der Stadt Wien. 1987 hat er die Wiener Vorlesungen als Dialogforum initiiert.

BUCHHINWEIS

Projekt mit großer Tradition

Die Wiener Vorlesungen verstehen sich als "Wissenschaftskolleg" der Stadt Wien, das die gesellschaftliche, politische und geistige Situation der Zeit analysiert und diskutiert. Die Veranstaltungen in den Festsälen des Wiener Rathauses sind öffentlich und frei zugänglich. Als das Projekt 1987 aus der Taufe gehoben wurde, knüpfte es an die große Tradition der Wiener Volksbildung in der Wiener Moderne und des "Roten Wien" der Zwischenkriegszeit an. Wer sich für diese Tradition interessiert, findet in dem Buch "Wiener Wissen" von Hubert Christian Ehalt eine Fülle an Material. Dieses reicht von den historisch-geistigen Entwicklungslinien über die Wissens-und Wissenschaftsförderung (2003-2016) bis hin zu den Wiener Vorlesungen. Der Wiener Wissenschaftsreferent Daniel Löcker will dieses Dialogforum neben dem Rathaus künftig auch an neuen Orten fortsetzen.

Wiener Wissen Entwicklungen, Projekte, Impulse. Von Hubert Christian Ehalt. Bibliothek der Provinz 2017. 287 S., geb., € 24,-

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