Maschine - © Foto: Pixabay

"Mechanisierung des Denkens"

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Ein Symposium in Wien widmete sich dem Erbe der Aufklärung und seinen heutigen Bedrohungen. Dazu zählt auch die fortschreitende Technisierung, meint der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Bitbol.

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Ein Symposium in Wien widmete sich dem Erbe der Aufklärung und seinen heutigen Bedrohungen. Dazu zählt auch die fortschreitende Technisierung, meint der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Bitbol.

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Als studierter Mediziner und Physiker entschied sich Michel Bitbol letztlich für eine philosophische Perspektive auf die Wissenschaft. Die FURCHE traf den Forschungsdirektor am Pariser "Centre National de la Recherche Scientifique" anlässlich eines Symposiums in Wien.

DIE FURCHE: Sind Wissenschaft und Technologie heute zur Bedrohung für die Menschheit geworden?

Michel Bitbol: Nicht per se. Das wahre Problem ist, dass Wissenschaft und Technologie manchmal ihren Ursprung und ihre Ziele vergessen. Angetrieben vom Druck des Wirtschaftssystems laufen sie fast gedankenlos, ohne zu reflektieren, was mit der Forschung wirklich am Spiel steht. Deshalb sollten Philosophen die Forscher daran erinnern, dass ihre Arbeit begonnen wurde, um die "conditio humana" zu erhellen, nicht nur um immer mehr Optionen wirtschaftlicher Verwertbarkeit zu schaffen. Die ganze Perspektive sollte erweitert werden, um die Wissenschaft an ihre tiefste Motivation zu erinnern.

DIE FURCHE: Wie steht es heute um die großen Errungenschaften der Aufklärung für die Wissenschaft?

Bitbol: Die Aufklärung war der historische Moment, in dem sich die Zivilisation bewusst wurde, ihre Ziele eigenständig zu definieren. Es war jener Moment, in dem die Wissenschaft zum Partner im Projekt wurde, den Menschen zu verstehen und mit voller Verantwortlichkeit auszustatten. Und die Wissenschaft war wichtig, damit die Menschen nach einer langen Zeit der Vormundschaft gleichsam erwachsen wurden, das heißt die Fähigkeit erlangten, ganz für sich selbst zu denken. Heute aber scheint der große Fortschritt der Aufklärung schwächer zu werden: Je mehr die Wissenschaft voranschreitet, umso mehr bietet sie einen Ersatz für das eigenständige Denken. Wir neigen dazu, das Denken aus der Hand zu geben, indem wir uns diversen nicht-menschlichen Systemen anvertrauen.

DIE FURCHE: Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einem "Automatisierungsprojekt" der Aufklärung. Was ist damit gemeint?

Bitbol: Computer und Künstliche Intelligenz sind gute Beispiele: Sie haben zur Entwicklung einer "Mechanisierung des Denkens" beigetragen. Heute übertragen wir Maschinen die Aufgabe, teils für uns selbst zu denken. Zudem denkt ja auch das ganze Wirtschaftssystem für uns, da es mittlerweile zu einer unkontrollierten Macht geworden ist. Aufgrund all dessen besteht das Risiko, in einen Zustand vor der Aufklärung zurückzufallen und jene Art von Selbstreflexion und Freiheit des Denkens zu verlieren, die gerade charakteristisch für die Aufklärung waren. Das ist irgendwie paradox: Mit den ersten Schritten der Wissenschaft erlangten wir die Autonomie des Denkens, aber mit fortschreitender Wissenschaft verlieren wir so manche Kräfte unseres Denkens, da wir sie technologischen und wirtschaftlichen Mächten übertragen haben.

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