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Kernforschung und Weltgericht

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DIE WISSENSCHAFT UND DIE GEFÄHRDETE WELT. Von Friedrich Wagner, C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München, 1964. XX und 800 Seiten. Preis 35 DM

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DIE WISSENSCHAFT UND DIE GEFÄHRDETE WELT. Von Friedrich Wagner, C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München, 1964. XX und 800 Seiten. Preis 35 DM

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Die Menschheit mußte sich schon mit vielen weltbewegenden Faktoren und Erscheinungen auseinandersetzen, mit Krieg und Macht, mit umstürzenden religiösen, politischen und sozialen Bewegungen, mit der Erfindung des Pulvers, auch mit Galileis richtunggebendem Einfluß auf die Wissenschaften — immer blieb aber eine gewisse Kontinuität in der Fortentwicklung gewahrt, bis dann Raketen, Atomphysik und Kosmonautik alles bisherige in Frage zu stellen begannen. Ludwig Freund hat in seinem Werk „Freiheit und Unfreiheit im Atomzeitalter“ („Die Furche“, 20/64) die Krise der Demokratie in ihrer Abwehr gegen Diktatur geprüft, wie sie durch die Atomkriegsgefahr entstanden ist. Friedrich Wagner, Professor für Soziologie in Bonn, spannt den Bogen wesentlich weiter und konfrontiert die Atomenergie mit den menschlichen Reaktionen in sozialer, politischer, wirtschaftlicher und biologischer Hinsicht. Er will in seinem eindrucksvollen Zeitgemälde nicht „warnen“, sondern lediglich den „Tatbestand“ wissenschaftssoziologisch festlegen. Diese Tatbestandsaufnahme gelingt in einer eingehenden, der „gefährdeten Welt“ gewidmeten Analyse, die eher pessimistisch ausklingt, dennoch für jeden Leser gewinnreich sein wird.

Als gefährdet gilt die Welt, die Menschheit, vornehmlich durch den „Automatismus der Auslösungstechnik selbst, deren Fehler die Katastrophe herbeiführen können“. Es bestehe ferner, wie der Autor fürchtet, die Wahrscheinlichkeit, daß auch ohne Krieg durch Kernenergieanlagen biologisch-genetische Schädigungen eintreten, die durch Verseuchung zum atomaren Selbstmord der Menschheit führen könnten. Einen besonders wertvollen Teil des Buches stellt ein Abriß der Wissenschaftsgeschichte dar, der zeigt, wie schon seit altersher bei Denkern und Dichtern Bedenken gegen eine Mißachtung der von der Schöpfung gezogenen Grenzen lebendig waren. Mit der Emanzipierung von jeglicher Ideologie wurde die Wissenschaft zur Wissenschaftsreligion, bis sie wieder zum Exponenten der Machtfaktoren herabsank, die sich die Entscheidung über Energieforschung und -anwendung vorbehalten. Zur Wissenschaftsgeschichte gehören auch die Beziehungen der Wissenschaft zum Fortschritt mit zugehörigem Regreß, zur Macht und zum Individuum, das schließlich die Herrschaft über die Wissenschaft verliert, weil es deren Rückwirkungen nicht mehr zu kalkulieren vermag, „weil es die Dinge, von denen sein künftiges Schicksal abhängt, nicht länger in seiner Gewalt hat“. Das Hauptübel der gegenwärtigen Entwicklung erblickt der Verfasser in den „Grenzüberschreitungen“ der Wissenschaft, der heute „der soziale Standpunkt“ und die „soziale Verantwortung“ fehlen. Sowohl die makrokosmische (Raumfahrt) als die mikrakosmische (Kernphysik) und die bialogische (Genetik) Forschung führen zur Entfesselung von der Kontrolle sich entziehenden Ideen und Kräften, wodurch die Harmonie des Ganzen und das dem Menschen gesetzte Maß gestört werden.

Wagner bringt einen umfänglichen Katalog von Auswegen: Abschaffung des Krieges, Abrüstung mit Waffenkontrolle, Weltregierung und Eingreifen der Politik, Abfallvernichtung, passive Schutzmaßnahmen gegen Atomwaffen. Was den Gedanken einer gelenkten Beschränkung der Forschung anbelangt, dürfte dieser abgelehnt werden, denn man kann kaum die Wissenschaft in Ketten legen, während gleichzeitig die Menschen in aller Welt um volle Freiheit ringen. Wir lesen auch manches über eschatologische Perspektiven, vom apokalyptischen Weltende und einem atomaren irdischen Paradies — das ist aber bereits die Flucht vor der Wirklichkeit in die Utopie, an deren Ende die genetische Perfektion im Wege staatlicher Individuenzucht („biologische Ingenieurkunst“), das heißt das phasenweise Ersetzen der Menschen durch von den Molekularbiologen künstlich erzeugten Übermenschen steht. So also sieht Wagner den Hexenkessel des Atomzeitalters und die Kernforschung vor dem Weltgericht. Mit staunenswertem Eifer (176 Seiten Anmerkungen und 818 Literaturhinweise) hat der Autor den „Tatbestand“ auch für fachlich weniger gebildete Leser fixiert und die Menschheit — ähnlich wie L. Freund — zur Besinnung aufgerufen, sie solle ihre „Haltung zur Umwelt und zu sich selbst“ ändern, denn „das Gesetz der irdischen Wirklichkeit bleibt auch dann unentrinnbar, wenn der Mensch außerirdische Kräfte auf seiner Erde entfesselt oder in den Weltraum auszubrechen versucht — wenn er seinem jGesetz' nicht .gewachsen' bleibt, vermag er an ihm nur zu scheitern. Das Verhängnis ist erst zu beschwören, wenn der totale Machttrieb den Maßen des Lebens ein- und untergeordnet wird.“

Fehlt aber diesem Appell nicht noch eine Anweisung, wie man den schätzenswerten Rat in die Tat umzusetzen hätte? Aus Seite 339 ist zwar zu lesen, „... andere Forscher betrachten die Wissenschaft selber als Ausweg aus dem Verhängnis, das sie erzeugt“, und auf Seite 111, die Gefahr sei „nur durch den Menschen selbst einzudämmen“, doch gehen diese vereinzelten Sätze in der Fülle des Gebotenen fast unter. Zweifellos ist es nur die Wissenschaft, die es vermag, die „gefährdete Welt“ zu befreien, nur sie kann und muß die Mittel finden, um die Kernenergie, sobald sich diese anschickt, zur Vernichtung auszuholen, zu bändigen. Könnte sie das nicht, müßte sie als Wissenschaft abdanken: „Hätte die Forschung sich mit gleichem Eifer, den sie ihrem Fortschritt widmete, mit ihrem sichtbar werdenden Rückschlag befaßt, dann hätte die Einsicht noch Platz greifen können, daß diese Kräfte einer Kontrolle bedurften, bevor man sie in eine Menschheit einbrechen ließ, die sie kaum dem Namen nach kannte“ (S. 136 f.). Von den Menschen müssen aber auch die Besonnenen gegen die Hemmungslosen („Haltung der Kernforscher, die ein überwissenschaftliches Ethos nicht aufkommen ließ“) erbarmungslos ankämpfen, selbst dann, wenn es sich um Gesinnungsfreunde eines Albert Einstein handelt, der sich tragischerweise außerwissenschaftlichen Einflüssen beugend zum Vater der Atombombe gemacht und dadurch einen dunklen Schatten über sein sonst so epochales Werk gebreitet hat. In den Zeiten des Konzils, das die Bannung der Atomgefahr in sein noch zu erfüllendes Programm aufgenommen hat, verdient Friedrich Wagners Werk weiteste Verbreitung und Beachtung. Oskar Regele

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