"Mechanisierung des Denkens"

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Ein Symposium in Wien widmete sich dem Erbe der Aufklärung und seinen heutigen Bedrohungen. Dazu zählt auch die fortschreitende Technisierung, meint der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Bitbol.

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Ein Symposium in Wien widmete sich dem Erbe der Aufklärung und seinen heutigen Bedrohungen. Dazu zählt auch die fortschreitende Technisierung, meint der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Bitbol.

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Das Gespräch führte Martin Tauss

Als studierter Mediziner und Physiker entschied sich Michel Bitbol letztlich für eine philosophische Perspektive auf die Wissenschaft. Die FURCHE traf den Forschungsdirektor am Pariser "Centre National de la Recherche Scientifique" anlässlich eines Symposiums in Wien.

Die Furche: Sind Wissenschaft und Technologie heute zur Bedrohung für die Menschheit geworden?

Michel Bitbol: Nicht per se. Das wahre Problem ist, dass Wissenschaft und Technologie manchmal ihren Ursprung und ihre Ziele vergessen. Angetrieben vom Druck des Wirtschaftssystems laufen sie fast gedankenlos, ohne zu reflektieren, was mit der Forschung wirklich am Spiel steht. Deshalb sollten Philosophen die Forscher daran erinnern, dass ihre Arbeit begonnen wurde, um die "conditio humana" zu erhellen, nicht nur um immer mehr Optionen wirtschaftlicher Verwertbarkeit zu schaffen. Die ganze Perspektive sollte erweitert werden, um die Wissenschaft an ihre tiefste Motivation zu erinnern.

Die Furche: Wie steht es heute um die großen Errungenschaften der Aufklärung für die Wissenschaft?

Bitbol: Die Aufklärung war der historische Moment, in dem sich die Zivilisation bewusst wurde, ihre Ziele eigenständig zu definieren. Es war jener Moment, in dem die Wissenschaft zum Partner im Projekt wurde, den Menschen zu verstehen und mit voller Verantwortlichkeit auszustatten. Und die Wissenschaft war wichtig, damit die Menschen nach einer langen Zeit der Vormundschaft gleichsam erwachsen wurden, das heißt die Fähigkeit erlangten, ganz für sich selbst zu denken. Heute aber scheint der große Fortschritt der Aufklärung schwächer zu werden: Je mehr die Wissenschaft voranschreitet, umso mehr bietet sie einen Ersatz für das eigenständige Denken. Wir neigen dazu, das Denken aus der Hand zu geben, indem wir uns diversen nicht-menschlichen Systemen anvertrauen.

Die Furche: Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einem "Automatisierungsprojekt" der Aufklärung. Was ist damit gemeint?

Bitbol: Computer und Künstliche Intelligenz sind gute Beispiele: Sie haben zur Entwicklung einer "Mechanisierung des Denkens" beigetragen. Heute übertragen wir Maschinen die Aufgabe, teils für uns selbst zu denken. Zudem denkt ja auch das ganze Wirtschaftssystem für uns, da es mittlerweile zu einer unkontrollierten Macht geworden ist. Aufgrund all dessen besteht das Risiko, in einen Zustand vor der Aufklärung zurückzufallen und jene Art von Selbstreflexion und Freiheit des Denkens zu verlieren, die gerade charakteristisch für die Aufklärung waren. Das ist irgendwie paradox: Mit den ersten Schritten der Wissenschaft erlangten wir die Autonomie des Denkens, aber mit fortschreitender Wissenschaft verlieren wir so manche Kräfte unseres Denkens, da wir sie technologischen und wirtschaftlichen Mächten übertragen haben.

Die Furche: Und wie könnten wir dann das volle Potenzial unseres Denkens zurückgewinnen?

Bitbol: Was insgesamt falsch läuft, ist, dass unser Wissenssystem nur auf Objekte ausgerichtet ist, und gewöhnlich nicht über sich selbst reflektiert. Quantenmechanik zum Beispiel wurde zunächst als Theorie der Natur missverstanden, in Wirklichkeit aber handelt es sich vor allem um eine Theorie unserer Aktionen in der Natur. Auf uns selbst zurückzukommen ist ein wichtiger Punkt, um Physik zu verstehen. Das Gleiche gilt für die Philosophie des Geistes: In der Regel trachten wir danach, den menschlichen Geist über die Hirnforschung zu verstehen -eine wundervolle Aufgabe, aber das ist nicht ausreichend. Denn was wir da zu ergründen versuchen, ist ja nicht wirklich außerhalb von uns. Unsere bewusste Erfahrung entzieht sich jedem Versuch, sie auf einen neurobiologischen Prozess zu reduzieren. Wenn wir das vergessen, kommt es zu einem großen Missverständnis.

Die Furche: Sie haben auch am wissenschaftlichen Dialog mit dem Buddhismus teilgenommen. Welchen Eindruck haben Sie davon?

Bitbol: Es ist viel versprechend, aber es bedarf eines korrekten Verständnisses. Manchmal preschen Leute vor und begnügen sich damit, ein paar nette Ähnlichkeiten zwischen Wissenschaft und Spiritualität darzustellen. Das gab es etwa in Fritjof Capras Buch "Das Tao der Physik". Aber nur Analogien aufzuzeigen, da bin ich sehr zurückhaltend. Denn es gibt Unterschiede, aber auch Ergänzungsmöglichkeiten: So verstehen manche buddhistische Traditionen die Welt als Projektion des Geistes, interessieren sich aber nicht dafür, wie diese Phänomene in effiziente Technologien umgewandelt werden könnten. In der westlichen Geistesgeschichte wiederum gibt es Denker wie Kant, die viel darüber reflektierten, dass sich Wissenschaft nur mit "Phänomenen" beschäftigt, aber auch erklärten, wie diese effizient für Prognosen und Technologien sein können. Westliches Denken kann dem Buddhismus dabei helfen, seine Erkenntnistheorie zu vervollständigen und ein Verständnis für moderne Wissenschaft zu entwickeln. Umgekehrt kann der Buddhismus das westliche Denken darin unterstützen, den Ursprung seiner Forschungen in der gelebten Erfahrung zu realisieren. Der buddhistischen Ergründung unserer Existenz liegt die Idee zugrunde, Leiden zu heilen. Es ist relativ einfach, auf dieser Ebene einen Dialog zu begründen: Wie können Buddhismus und Wissenschaft auf ihre je eigene Weise dazu beitragen, menschliches Leiden zu lindern? Wissenschaft und Technologie vermögen dies durch äußere Interventionen, die buddhistische Praxis von innen heraus.

Die Furche: Wie sehen Sie die aktuelle Wissenschaftspolitik in den europäischen Ländern?

Bitbol: Die größten wissenschaftlichen Fortschritte kamen niemals durch anwendungsorientierte Forschung, sondern durch wissenschaftliche Revolutionen: Das bedeutet eine komplette Veränderung unserer Vorstellungen von der Welt. Die heutige Wissenschaft ist vorwiegend anwendungsorientiert, da Staaten unmittelbare Verwertbarkeit und Industrien unmittelbaren Profit erwarten. Diese Situation erschwert jedoch wissenschaftliche Durchbrüche erheblich. Reflexionsräume und Freiheit des Denkens hingegen sind grundlegende Faktoren, um dies zu begünstigen. Dazu braucht man nicht viel Geld, nur die Akzeptanz eines gewissen Fehlerrisikos. Denn wissenschaftliche Revolutionen sind nicht vorhersagbar.

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