medizinethik - © Illustration: iStock/DrAfter123 (bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Medizinethik: Was heißt es künftig, ein Mensch zu sein?

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Ob Digitalisierung und Künstliche Intelligenz wie „Chat GPT“ – oder wissenschaftliche Durchbrüche wie die „Genschere“: Die Medizinethik steht vor drängenden Fragen. Ein Ausblick.

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Ob Digitalisierung und Künstliche Intelligenz wie „Chat GPT“ – oder wissenschaftliche Durchbrüche wie die „Genschere“: Die Medizinethik steht vor drängenden Fragen. Ein Ausblick.

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Das digitale Zeitalter führt in allen Lebensbereichen zu einem Paradigmenwechsel – auch in der Medizin. Auf dem Gebiet der Diagnostik und Therapie von Krankheiten verspricht die Kombination von moderner Genetik und digitaler Informationsverarbeitung große Fortschritte. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) wirken sich tiefgreifend auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient wie auf die Kommunikation und Organisation des Gesundheitswesens insgesamt aus. Manche Krankenhäuser bieten bereits Online-Ambulanzen an, um die Klinikambulanzen zu entlasten. Für Aufsehen sorgte zuletzt die KI-Software „Chat GPT“, welche die Textproduktion auch im Wissenschaftsbereich revolutionieren wird. Laut einer Studie ist sie in der Lage, falsche wissenschaftliche Abstracts zu produzieren, die selbst Gutachter nicht auf Anhieb als Fälschung erkennen.

Mit der Digitalisierung der Medizin und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) verbinden sich große Hoffnungen. So soll der Einsatz von KI den Ansatz einer evidenzbasierten Medizin verbessern und die Kosten im Gesundheitswesen senken, zum Beispiel durch Zeitersparnis in der Diagnostik. Allerdings stellt sich die Frage, wie die eingesparte Zeit sinnvoll genutzt werden kann. Hat der Arzt künftig mehr Zeit als jetzt für Patientengespräche („sprechende Medizin“), oder führt der Einsatz von KI nur zu weiterer Arbeitsverdichtung und Personalabbau im Gesundheitsbereich (bzw. zur Umschichtung vom Patienten weg in die Labore)?

Was tun mit all den Daten?

Die Generierung und Sammlung von Daten stellt die Medizin nicht nur vor technische, sondern auch vor ethische Probleme. Schätzungen gehen davon aus, dass heute alle zwei Tage dieselbe Datenmenge an Informationen erzeugt wird, wie vom ersten Auftreten des Homo sapiens vor 120.000 Jahren bis zum Jahr 2003. Die systematische Erfassung personenbezogener Daten zur Lebensweise und zur Umwelt erzeugt eine Spannung zwischen den Interessen von Public Health und dem Schutz der Privatsphäre.

Die Vision einer global vernetzten Big-Data-Medizin sieht sich zudem mit ernsten Schwierigkeiten konfrontiert. So sind medizinische Daten weltweit großteils miteinander inkompatibel, teils handgeschrieben, teils unvollständig. Auch darf das Sprachenproblem nicht unterschätzt werden. Neben weit verbreiteten Sprachen gibt es solche wie Kisuaheli oder Urdu. Die Aufzeichnung medizinischer Daten wird teilweise von Kulturen und Religionen beeinflusst. So tritt auch in der Medizin das Problem der Hermeneutik auf. Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen: Verstehen und Interpretieren lassen sich aber nicht durch digitale Algorithmen ersetzen, auch wenn es bereits beeindruckende digitale Übersetzungsprogramme wie „DeepL“ gibt – oder eben „Chat GPT“.

Eine weitere Frage lautet, ob sich etwa auch die Ethik digitalisieren lässt. Man denke an selbstfahrende Autos oder militärische Drohnen, die ohne menschliche Einwirkung autonome Entscheidungen treffen. Wie soll etwa ein Auto für Situationen programmiert sein, in denen zwischen Menschenleben abzuwägen ist? Die moralische Letztverantwortung des Menschen lässt sich folglich nicht an Maschinen delegieren, auch nicht in der Medizin.

Eine besondere technische, aber auch ethische Herausforderung auf dem Gebiet der KI stellt das Deep Learning dar. Darunter versteht man, dass sich die Software von KI selbst fortschreibt. Ist es ethisch verantwortbar, die Gesundheit von Patienten einer intransparenten Computerintelligenz anzuvertrauen? Blindes Vertrauen in KI kann jedenfalls gefährlich sein.

Neue digitale Mythen

Kritik als entscheidendes Motiv jeder Aufklärung schließt die Skepsis gegenüber vorschnellen Heilsversprechungen ein. Es ist ja nicht auszuschließen, dass auch die digitalisierte Medizin neue Mythen produziert. Für multifaktorielle Erkrankungen wird auch die Gentechnik keine Wundermittel parat haben, und selbst wenn sich die Chancen durch Verfahren des Genome Editing deutlich erhöhen sollten, besteht Grund zur Nüchternheit.

Dieses Genome Editing (Genchirurgie) mit Hilfe der „Genschere“ CRISPR ist dabei, die Biowissenschaften und die Medizin zu revolutionieren. Und der Hype um die sich abzeichnenden Möglichkeiten ist so groß, dass die ethische Reflexion kaum noch Schritt halten kann. Es ist gerade einmal gut zehn Jahre her, dass eine Arbeitsgruppe um Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna die erste Arbeit zur Entwicklung und zum Einsatz der CRISPR/CasMethode veröffentlichte. 2015 kürte die Fachzeitschrift Science das neue Verfahren zum „Breakthrough“ des Jahres.

Nur drei Jahre später schreckte der chinesische Biotechnologe Jiankiu He die Weltöffentlichkeit mit der Meldung auf, in China seien zwei gesunde Mädchen zur Welt gekommen, nachdem er im Rahmen von künstlicher Befruchtung mit Hilfe der Genschere CHRISPR/Cas 9 das Erbgut der Mädchen so verändert habe, dass sie ihr ganzes Leben immun gegen AIDS bleiben. Zwar wurde He wegen krasser Missachtung forschungsethischer Standards international kritisiert. Auch zweifeln Forscher nach der Geburt der beiden Mädchen am Erfolg des gentherapeutischen Experiments. Der Geist einer unkontrollierten Entwicklung, die durch wissenschaftlichen Ehrgeiz, aber auch durch ökonomische Interessen angetrieben wird, ist jedoch aus der Flasche.

Experimente am Menschen bedürfen der Genehmigung durch eine Ethikkommission, ohne die wiederum keine Forschungsergebnisse in seriösen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden können. Offenbar genügen aber ethische Selbstverpflichtungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften nicht in jedem Fall, damit ethische Regeln auch wirklich eingehalten werden. Die staatliche Gesetzgebung stößt an Grenzen, weil Forschung heute global vernetzt betrieben wird.

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