7051669-1991_03_11.jpg
Digital In Arbeit

Lernmarkt, Therapiestation, Bildungsstätte

Werbung
Werbung
Werbung

Das Institut für Erziehungswissenschaften der Grazer Universität veranstaltete Ende November 1990 ein Symposion „Schule 2020 - Herausforderungen für Schule, Jugendarbeit und Familie durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien". Sich mit der Schule des Jahres 2020 zu beschäftigen, beansprucht die Phantasie. Ein Generationssprung ist zu bewältigen; allerdings werden in dieser Schule Menschen als Lehrer tätig sein, die bereits heute heranwachsen. Die Gesellschaft wird dann - 2020 - wohl wirklich

zur Informationsgesellschaft geworden sein; die Mehrzahl der Berufstätigen wird in der Informationswirtschaft beschäftigt sein: mit der Gewinnung, Verarbeitung, Verbreitung und Auswertung von Information.

Eine neue technologische Zivilisation wird entstanden sein; die Technologie wird auch das Leben -auch das des Menschen - durch Bio-und Gentechnologie - planbar und gestaltbar gemacht haben. Die Menschen werden nicht mehr nur den Körper, sondern auch den Geist den Maschinen, den Informationsmaschinen, den „Denk-Zeugen" anvertrauen und ihnen die Entscheidungsoptimierungen überlassen. Ohne Einschalten der menschlichen Vernunft?

In der Schule des Jahres 2020 werden jedenfalls - ein bedeutsamer Unterschied zu heute - Lehrer tätig sein, die bereits selbst mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien aufgewachsen sind und diese Medien als selbstverständliche Bestandteile ihrer Umwelt erfahren und sie von klein auf benutzen gelernt haben.

Mehrere Zukunftsbilder der Schule lassen sich entwerfen:

• Die Schule als Lernmarkt. Sie ist vollelektronisiert, und die Lehrer sind weitgehend durch intelligente computergestützte und computergesteuerte interaktive Videosysteme ersetzt, sind zu „Ordnungshütern" und „Materialverwaltern" (für „hardware" und ..teachware") degradiert. Die „teachware"-Ent-wicklung erfolgt in Denkfabriken der großen Medienkonzerne und wird den Abnehmern, Schulen, Betrieben, Familien, auf dem Informationsmarkt angeboten. Dieser Lernwarenmarkt wird neue Ungleichheiten erzeugen, auch dadurch, daß sich nicht alle Institutionen und Personen mit „teach-ware" in gleichem Ausmaß, in gleicher Qualität versorgen können.

• Die Schule als Therapiestation. Dieses Szenario hat K. Hafner (Die neue Bildungskrise, 1982) in seiner „Homuter"-Gesellschaft entworfen. Sie soll zur „Verwirklichung eines seelisch stabilen Menschen beitragen, der in der Welt der Informationstechnik leben kann" (Seite 25). Die große Masse der Menschen ist in den Schulen in erster Linie auf die Freizeit in der Informationsgesellschaft sozial und emotional vorzubereiten - „auf Kosten der Vernachlässigung des Trainings rational-intellektueller Fakten und Prozeduren" (Seite 265). Die neuen informationstechnischen Medien sind nur unter dem Aspekt ihrer geschickten Bedienung und zweckmäßigen Nutzung Gegenstand von Lernprozessen der Masse. Daneben sind die wenigen Menschen, „die in der Lage sind, mit Kreativität und Genialität jenseits der Leistungen der Informationstechnik diese selbst und die Homu-ter-Gesellschaft voranzutreiben" (Seite 265), in elitären Einrichtungen auf ihre Herrschaftsfunktion vorzubereiten.

Nur als negatives Gegenbild zu dieser Homuter-Gesellschaf t zeich-

net Häfner auch eine „human-alternative" Gesellschaft der Fortschrittsverweigerer und Technikfeinde („Anti-Kernkraft-Bewegung, ein Zurück-zur-Natur , alternatives Arbeiten in der Kommune, bewußte Einschränkung des Lebensstandards") (Seite 253). • Die Schule als Bildungsinstitution. Bei dieser Perspektive wird angenommen, daß die Schule mit die Voraussetzungen dafür schaffen kann, daß alle Menschen dazu befähigt werden, durch politisches Handeln das technisch Machbare und ökonomisch Brauchbare der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in den Grenzen des human und sozial Wünschbaren zu nützen. Der gebildete Mensch ist unter anderem gekennzeichnet durch ein Bewußtsein von zentralen Problemen der jeweiligen Gegenwart und voraussehbaren Zukunft und durch die Bereitschaft, sich mitverantwortlich um deren Lösung zu bemühen.

Die Schule muß als Aufgabe übernehmen, die Heranwachsenden mit

den neuen informationsliefernden und informationsverarbeitenden Medien vertraut, nicht nur bekannt zu machen. Letzteres geschieht ohnehin auch außerhalb und unabhängig von der Schule in großem Ausmaß. Vertrautsein bedeutet nicht nur die Beherrschung des Umgangs mit den neuen Medien, sondern umfaßt die Einsichten,

• wie die angebotene Information geschaffen (generiert) wird;

• wie der Informationstransport vor sich geht (funktioniert);

• wie solche Information in ent-scheidungs- und handlungsrelevantes Wissen umgesetzt wird.Darüber hinaus sind die Technologiefolgen aufzuklären, auch in Hinblick auf die mißbräuchlichen Verwendungsformen neuer Technologien. Diesen Zielen versucht die Schule durch die Einbeziehung der elektronischen Datenverarbeitung in den Lernprozeß („Trägerfächer") und durch Einrichtung des Fachs „Informatik" gerecht zu werden.

Die Bildungsschule der Zukunft wird aber auch kompensatorische

Leistungen zu erbringen haben:

• Da Information in Zukunft leicht abrufbar und über Bildschirm nicht nur symbolisch (als Sprache), sondern auch ikonisch (als Bild) verfügbar sein wird, verlieren die Aneignung und Einübung von Überblickswissen und seine Überprüfimg mit Beurteilungskonsequenzen ihre Bedeutung. Die geforderte Fähigkeit der Menschen, angebotene Information in persönliches Wissen umzusetzen, läßt sich nur durch exemplarisches Lehren in einer epochalen Anordnung der Unterrichtszeit gewinnen.

• Als Gegengewicht zur medial vermittelten Information, die keine wirkliche Begegnung und Auseinandersetzung mit den Lernobjekten (Sachen und Lebewesen) er-

laubt, hat die Schule in erster Linie Erfahrung (Versuchen, Entdecken, Erobern, Begreifen, Erkennen) zu veranstalten. Die Bildschirmrezeption erfordert als Ergänzung die Schulung aller Sinne. • Die unpersönliche und daher emotionslose Kommunikation mit technischen Systemen erfordert als Gegengewicht die intensive Schulung der persönlichen Interaktionsund Konfliktf ähigkeit.Soziales Lernen ist gefragt; die Thematisierung und Bearbeitung menschlicher und zwischenmenschlicher Probleme wird mehr Bedeutung gewinnen.

Unter all diesen Aspekten sollte heute bereits die Entwicklung der Schule des Jahres 2020 beginnen.

Der Autor ist Ordinarius für Erziehungswissenschaften an der Universität Graz.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung