7058426-1991_26_21.jpg
Digital In Arbeit

AUFBRUCH INS NEUE EUROPA

19451960198020002020

Mitteleuropa beginnt wieder zu leben. Und es beginnt zu leben in den kleinen Gebieten, in den Städten und den Regionen, in den Provinzen, Komitaten, Republiken und Bundesländern. Es ist, als hätten alle auf einmal bei Stifter gelernt oder bei Khor oder bei Koren.

19451960198020002020

Mitteleuropa beginnt wieder zu leben. Und es beginnt zu leben in den kleinen Gebieten, in den Städten und den Regionen, in den Provinzen, Komitaten, Republiken und Bundesländern. Es ist, als hätten alle auf einmal bei Stifter gelernt oder bei Khor oder bei Koren.

Werbung
Werbung
Werbung

Während die Metropolen schwer lenkbare Schiffe geworden sind, gärt und brodelt es im Kleinen. Da entsteht neues Selbstbewußtsein, neue Identität, neue Neugierde, neues Offensein und aus all dem heraus neues Zusammenwirken, neue Freundschaft - kurz, eine neue Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit besteht im selbstverständlichen Nebeneinander verschiedener Nationen, die ihre Eigenheiten nicht aufgeben sondern bewahren. Sie besteht in der Toleranz gegenüber dem Andersseienden und Andersdenkenden, der wohl aus demselben Raum, aber aus einem anderen kulturellen Gefüge stammt, ohne dabei die eigene Identität preisgeben zu wollen. Sie besteht in einem Nebeneinander freier Denkungswei-se, freier Kulturausübung, freier Handels- und Wirtschaftsgestaltung, ohne dabei den Aspekt der Zusammenarbeit und Kooperation, der gemeinschaftlichen Planung und der gemeinschaftlichen Bewältigung allgemeiner Probleme zu vernachlässigen.

György Konräd definiert dies in seinem „Budapester Tao" so: „Mitteleuropäer sein, bedeutet Ausgewogenheit in der Behandlung der Inter-essenskonflikte, eine ästhetische Sensibilität für das Komplizierte, die Mehrsprachigkeit der Ausdrucks weisen. Seine Todfeinde verstehen, das ist die Strategie des Verstehens. Es gibt ein mitteleuropäisches Tao. Umgeben von einem geheimnisvollen Verhaltenskodex, von der Fähigkeit, auch ohne viele Worte zu verstehen, umgeben vom gemeinsamen Wörterbuch ironischer Anspielungen... Mitteleuropäer sein heißt, die Vielfalt wechselseitig für einen Wert zu halten."

Daß all das, was etwa Konräd meint, was Busek, Mantl, Roszik, Tischner, Brix (um nur wenige der Mitteleuropa-Exponenten zu nennen) immer wieder darstellen und postulieren, daß all das im Rahmen eines vereinten Europa, im Rahmen eines EWR oder einer EG nicht verwirklicht werden kann, liegt auf der Hand. Der Nivel-lierungsmechanismus ist in einem supranationalen europäischen Gebilde zu stark, um der Individualität Platz zu lassen. Andersartiges, über erlassene Normen Hinausgehendes wäre hinderlich, beschwerlich, nicht administrierbar und somit auch nicht steuerbar. Das vereinigte Europa hat keine Zeit und keine Geduld für die Identitäten kleiner Räume.

Gerade darum ist die Wiederentdeckung geschichtlicher Räume und Kulturen innerhalb der weitaus jüngeren europäischen Nationalstaaten so immens wichtig. In der Stainzer Erklärung vom Herbst 1990 heißt es, daß „gerade ein Europa der Regionen und der kulturellen Vielfalt... den dynamischen Prozeß der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Einigung befruchten und verstärken (Einheit in Vielfalt)" kann. Dies ist ein wichtiges Postulat an die zukünftige Gestaltung des Kontinents, die nach den Kriterien des Föderalismus und des Regionalismus diskutiert werden muß.

Viele Regionen zeigen vor, was benötigt sein wird: Weltoffenheit anstelle von Engstirnigkeit und Kleinkariertheit, pragmatische Nachbarschaftspolitik anstelle von Hilflosen-zuschüssen und Abspeisung, ein neuer transnationaler Regionalismus vor allem in qualitativer Hinsicht, ein Geschichtsbewußtsein ohne falsche Illusionen und Romantizismen und der * Glaupe an die Vision, daß Mitteleuropa nur sein kann, wenn es sein will.

In der Steiermark ist diese Den-kungsartkein Fremdgut mehr. Seit Jahrzehnten wird über die Grenzen hinweg kooperiert und entwickelt, Kultur gemacht, Handel betrieben, Forschung ermöglicht und politisches Selbstbewußtsein gestärkt. Die Arbeitsgemeinschaft der Alpen-Adria-Länder ist eine Konstruktion, die Krainer und Bemini erfanden, Trigon ist eine Einrichtung, die Koren ins Leben rief, die Förderung der Städtekooperationen wird von Stingl betrieben. Die Kirchen, die Kammern, die Grazer Messe, die Universitäten - sie alle befördern das Kennenlernen, das Verstehen und die gemeinsame Hilfe in Richtung der Nachbarstaaten. Die offizielle und die offiziöse Landespolitik haben längst erkannt, daß es wichtig ist, den Mikrokosmos der nachbarschaftlichen Beziehungen und der regionalen partnerschaftlichen Verwebungen anstelle des Makrokosmos der Nationalstaaten zu verstärken, regionale Zusammengehörigkeit anstelle der global city zu fördern. Den Freiraum von Gruppen und Regionen vor der Gefahr der internationalen Einebnung zu bewahren. Das Zusammenwirken im Kleinen als Großes ansehen zu lernen. Wichtig ist es, die gemeinsame Geschichte, gemeinsame Kultur, gemeinsame Wirtschaft und Musik darzustellen. Und wichtig ist es, über eine gemeinsame Gegenwart der Regionen hinaus den Versuch zu wagen, eine gemeinsame Zukunft zu erfühlen: eine gemeinsame Zukunft in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Forschung, in der Ökologie, im Tourismus, im Handel und vielleicht sogar auch in der Politik.

Nicht durch großartige Projekte wie etwa eine Weltausstellung wird Mitteleuropa evident, sondern durch die vielen, oft fast unsichtbaren Verbindungsströme zwischen Ortschaften, Ländern und Personen entsteht das bei allem Eigenverständnis gemeinsame Leben in einem zentralen, mittleren Europa.

Aus dieser Sicht heraus ist auch zu verstehen, daß in der Steiermark nun nach dem Wegfall der Wiener Weltausstellung der seit einigen Jahren ventilierte Gedanke einer „Mitteleuropa"-Ausstellung betrieben wird. Die Planungsarbeiten sind weit gediehen, die Basis für das Projekt, an dem sich 18 Teilstaaten beteiligen wollen, ist geschaffen. Was noch aussteht, ist die zustimmende Erklärung der politisch Verantwortlichen.

Eine derartige „Expo der Regionen" als eine Schau der Selbstdarstellung etwa des zentralen Mitteleuropa in Geschichte und Zukunft ist nicht nur ideell von Wichtigkeit und angesichts des kommenden EG-Kontinents, aber auch der politischen Entwicklung in den Nachbarländern von Dringlichkeit, sondern sie ist auch finanzierbar, vermarktbar und in der Folge für alle Beteiligten effektuier-bar. Daß für dieses Unternehmen der Stärkung des Regionalgedankens Weitblick, Mut und politische Stärke notwendig sind, ist klar.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung