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Wien und „die anderen“

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Am 26. Februar d. J. stand auf der Tagesordnung des Wiener Gemeinderates die „Untersuchung über die Zuwanderung nach Wien und die Abwanderung aus Wien“.

Wie steht es denn überhaupt mit dem „Wachstum“ Wiens? In den 15 Jahren von 1950 bis 1964 gab es um 145.629 mehr Todesfälle als Geburten. Hätte sich die Einwohnerzahl Wiens nicht durch Zuwanderungen vermehrt, so hätte Wien Ende 1964 nicht 1,637.589, sondern nur 1,491.000 Einwohner gehabt.

Würde sich diese Entwicklung fortsetzen, so wäre die Einwohneranzahl der Bundeshauptstadt um die Jahrtausendwende auf rund eine Million abgesunken. Daß dies nicht zutrifft, sondern daß sich die Bevölkerung sogar nach dem Krieg um einige Zehntausend vermehrt hat, verdanken wir der Zuwanderung.

Dieser quantitative Zuwachs ist aber auch qualitativ hochwichtig, denn nur agile, arbeitsfähige Leute wechseln ihren Wohn- und Arbeitsort, meist alleinstehende Menschen oder junge Ehepaare. Zuwanderung bringt also der Stadt einen besonders wertvollen Bevölkerungsanteil.

Erfreulicherweise beginnt sich in den letzten Jahren auch das Geburtsdefizit Wiens zu verringern. 1964 beträgt es mit 5834 nur noch etwa zweieinhalb Promille der Gesamteinwohnerschaft.

Könnten wir also nicht aus eigener Kraft zur Erhaltung der Lebensfähigkeit unserer Stadt kommen? Etwa — mit echter Familienpolitik, deren Nahziel materielle Besserstellung und familiengerechite Wohnung, deren Fernziel „Familiengesinnung“ ist.

Der „Wanderungsgewinn“ der Metropole kommt aus den Überschüssen des Umlandes. Indessen aber bemühen sich die umliegenden Bundesländer sowohl aus eigener Kraft als auch mit Förderungsmitteln des Bundes darum, wirtschaftlich aufzuholen, die Abwanderung also zu verlangsamen, was wieder Wien zu spüren bekommt.

Trotzdem haben Wien und die Bundesländer auch gemeinsame Interessen. Die Enquete über die Folgen der europäischen Integration für Wien und die umliegenden Bundesländer haben es gezeigt.

Gemeinsam mit Wien teilen vor allem Niederösterreich und das Burgenland die Nachteile einer Randlage am Eisernen Vorhang. Naturgemäß haben Gebiete, die am weitesten von den lebendigsten wirtschaftlichen Zentren der europäischen Integration entfernt sind, die größten wirtschaftlichen Nachteile. Sie tragen auch ein besonderes Risiko: Bessere Beziehungen zu den Gebieten hinter dem Eisernen Vorhang beginnen sofort wieder einzufrieren, wenn bei politischer Winddrehung ein kühlerer Luftzug weht.

Aber auch andere aktuelle Fragen wirft die Nachbarschaft Wiens und der beiden nahen Bundesländer auf:

• Die Verdichtung des Nahverkehrs;

• Wohnung und Arbeitsplatz der vielen Pendler;

• damit zusammenhängend die Frage der Steuern wie der Kosten für die erwähnten Wohn- und Arbeitsplätze;

• die Erholung des Großstädters und damit der forcierte Urlaub des Wieners im Umland.

Die gemeinsamen Interessen Wiens und der umliegenden Bundesländer wurden nicht immer klar erkannt. In der Ersten Republik herrschte das chronische Gegeneinander vor. Typisch war dafür die Bezeichnung „Wien als Wasserkopf“.

Gemeinsames Leid und gemeinsamer Aufbau seit 1945 haben manches gebessert. Das gemeinsame Schicksal im integrierten Europa sollte uns weiter über Schlagworte und Ressentiments hinaus zusammenführen.

Freilich hat Wien in der Meinung der Mitbürger in den Bundesländern noch eine besondere Hypothek: Wien beherbergt in seinen Mauern die Bundesregierung. Das ist freilich das Los, das die Wiener Bewohner mit den Bewohnern auch anderer Hauptstädte gemeinsam haben.

Was immer aus einem Ministerium an Unerfreulichem kommt — es muß nicht immer ein Fehler sein —, fast immer werden die Einwohner der Hauptstadt, in diesem Fall also die Wiener, in der Meinung ihrer Mitbürger in den Bundesländern damit „belastet“.

Es muß nicht erst der Name eines Bodenseeschiffes sein, es gibt auch viele andere Gelegenheiten dazu: Niemand denkt daran, daß die Bundesregierung in ihrer Mehrheit nicht aus Wienern besteht, sondern man sagt einfach: „In Wien“ ist das und jenes passiert.

Trotzdem ermöglicht es die Untersuchung über die Wiener Wanderbewegung des Institutes für RaumPlanung, sachliche Grundlagen zu schaffen.

An sich liegt die Zusammenarbeit Wiens mit seinem Umland sozusagen in der Luft. Auch anderswo ist die Zusammenarbeit der Großstädte mit ihrem Umland schon erkannt. Hamburg und Schleswig-Holstein sind ein Beispiel, Hannover und sein Umland ein weiteres.

Freilich gibt es neben gemeinsamen Interessen auch Interessengegensätze, so daß das Zusammenfinden nicht immer ganz leicht sein wird, vor allem dann, wenn das Gespräch zu den Finanzreferenten kommt und es um ihre heiligsten Güter geht.

Es gibt für Wien eine Idealvorstellung: „Wien wieder Weltstadt“.Es ist eine große Aufgabe, die materiellen und geistigen Grundlagen einer solchen anspruchsvollen Stellung zu bewahren oder wiederzuer-wecken. Mit der Enquete im vergangenen Jahr über die Auswirkungen der Integration auf Wien und die umliegenden Bundesländer wurde damit begonnen.

Vergessen wir über der großen Welt aber nicht unsere österreichische. Hier hängt die Stellung Wiens vom gegenseitigen Verständnis ab.

Gerade diese Untersuchung wird auch Möglichkeiten gegenseitigen Verstehens geben, und wir können uns daraus auch eine zunehmende Integration unserer schönen Wienerstadt im Bewußtsein aller Österreicher und im besonderen unserer nächsten Nachbarn erhoffen.

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