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Wiens Ausstrahlungsbereiche

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Die Begriffsverwirrung um die Rolle der Stadt Wien erreicht jedesmal dann einen Höhepunkt, wenn die nicht voraussehbaren Witterungsschwankungen eine episodische Verminderung des Trinkwasser- zuflusses hervorrufen. Sofort werden hierauf Stimmen laut, die erstaunt fragen, was Wien für eine „Weltstadt“ sei, die nicht einmal für das gesicherte morgendliche Zahnputzwasser sorgen kann.

In die Vielschichtigkeit der zentralen Funktionen Wiens ist allerdings die Infrastruktur, wie beispielsweise die Wasserversorgung, kaum einzuordnen. Diese gehört vielmehr zum Aufgabenbereich der Gemeinde, ist also lokaler Natur und hat mit der Stellung einer Weltstadt schon gar nichts gemein.

Es ist deshalb an der Zeit, die scheinbar vielfältig verflochtenen und undurchschaubaren zentralen Funktionen der Stadt Wien zu analysieren, die Hierarchie der verschiedenartigen Bedeutungsgrade zu durchleuchten und die jeweiligen Ausstrahlungsbereiche abzugrenzen. Wien ist nicht bloß eine Stadtgemeinde und ein österreichisches Bundesland: Die Millionenstadt erfüllt für ihre nähere und weitere Umgebung auch die zentralen Aufgaben als Gerichtsort, Bezirkshauptort, Viertelsstadt, Landeshauptstadt, Bundeshauptstadt und Weltstadt. Wien besitzt aber auch für jede dieser sechs Mittelpunktfunktionen einen eigenen Geltungsbereich: Je höher die Stellung, desto größer ist das dazugehörende Einzugsgebiet.

Dabei ist jedoch zu bemerken, daß die zentrale Funktion beispielsweise eines Gerichtsortes usw. keinesfalls aus dem Gesichtswinkel der Verwaltung gesehen werden darf. Die Stadtgeographen verstehen unter einem solchen Rang, daß zentrale Institutionen vorhanden sind, die der Verwaltung, der Wirtschaft, dem Gesundheitswesen, dem Kulturleben und dem Verkehrswesen angehören und ungefähr die Stufe eines Bezirksgerichtes einnehmen. Meistens versorgt ein derart ausgestatteter Mittelpunkt einen Einzugs- oder Einflußbereich, der der Größe eines Gerichtsbezirkes ungef ähr entspricht. Mit anderen Worten: Die jeweilige Rangstufe des zentralen Systems repräsentiert die Gesamtheit der für die Umgebung geleisteten Dienste. Mit dem Erfassen des entsprechenden Wirkungsgebietes kann man dann die Ausstrahlung des Ortes stufenweise verfolgen.

Die Wirkungsfelder

Was kann so ein zentraler Ort vom Typ eines Gerichtsortes an repräsentativen Einrichtungen haben? Zuerst vom Sachgebiet der Verwaltung selbstverständlich ein Bezirksgericht, eine Steueraufsichtsstelle und eine Bezirksbauernkammer, von der Wirtschaft einen Tabakhauptverlag und Fachgeschäfte, vom Gesundheitswesen eine Apotheke und einen Tierarzt und von der Kultur ein Dekanat, eine Hauptschule sowie ein Kino. Diese Institutionen sind nicht immer alle vorhanden. Darum gliedert man die zentralen Stufen nach der vollen, minderen oder unzureichenden Ausstattung.

Welche Gebiete außerhalb der Stadtgrenzen beeinflußt nun Wien mit zentralen Versorgungseinrichtungen dieses Ranges, nämlich des Gerichtsortes? Im „Atlas der Republik Österreich", herausgegeben von der Kommission für Raumforschung in der österreichischen Akademie der Wissenschaften, kann man das von der Karte „Zentrale Orte und ihre Bereiche“ ablesen: im Marchfeld werden Gerasdorf und Seyring, am Alpenostrand teilweise sogar Perchtoldsdorf und Vösendorf, gewiß aber Kaltenleutgeben, Breitenfurt und Laab im Walde von solchen zentralen Institutionen Wiens versorgt. Dagegen wenden sich die Bewohner des östlichen Siedlungsgebietes von Eßling, im Gemeindebezirk Donaustadt gelegen, dem nahen zentralen niederösterreichischen Ort Groß- enzersdorf, und die Menschen aus Kaiserebersdorf und Albern im Bezirk Simmering dem benachbarten Zentrum Schwechat zu, wenn sie ihren Bedarf auf dieser Stufe dek- ken wollen. Wir haben es also hier hauptsächlich mit einem verkehrsorientierten Übergreifen der zentralen Einzugsbereiche zu tun.

Bezirks- und Viertelsstadt

Dem nächsthöheren Grad, dem des Bezirkshauptortes, entsprechen folgende Versorgungseinrichtungen: Bezirkshauptmannschaft, Vermessungsamt, Autohändler, Lebensmittelgroßhändler, Fachärzte, Krankenhaus und Mittelschule. In diesem Rang beginnt die Wiener Ausstrahlung wirklich interessant zu werden. Wer wußte denn bisher, daß das südliche Marchfeld bis Stopfenreuth, das nördliche Marchfeld bis Straßhof und Wölkersdorf, das Wiental bis Preßbaum und der Raum südlich von Götzendorf in dieser Hinsicht beinahe ausschließlich nach Wien orientiert sind? Dazu kommen noch ausgedehnte Einflußzonen mit abgeschwächter Zuordnung: das östliche Marchfeld bis zur March, an der Wiener Pforte Langenzersdorf und sogar Klosterneuburg, das Wiener Becken bis zum Leithagebinge und der Alpenostrand bis Brunn am Gebirge.

Außerdem sind noch Gebiete vorhanden, in denen die Bevölkerung zwischen zwei oder drei zentralen Orten wählen kann. Wien wird daher auch von den Bewohnern des östlichen Weinviertels, bis Zistersdorf und Hohenau hinauf, für derartige Besorgungen aufgesucht ebenso von Konsumenten aus dem Raum Neulengbach und aus dem burgenländischen Distrikt um Neusiedl am See!

Schauen wir uns aber nun die nächsthöhere Stufe, die Wirkung dei Viertelsstadt, an. Unter diesem Begriff versteht man etwa eine Stellung, wie sie die Hauptorte der Landesviertel in Niederösterreich ein nehmen oder es wenigstens sollten. Als dafür repräsentativ werden angesehen: ein Kreisgericht, Gebietsbauamt, Lichtpausegeschäft, Zeitungsverlag, Theater und Lehrerbildungsanstalt. Diese zentralen Wiener Einrichtungen werden von den Einwohnern des gesamten Wein Viertels, des ganzen nördlichen Waldviertels bis hinauf nach Gmünd, im Westen ab der Linie Tulln—Böheim- kirchen—Leobersdorf sowie aus dem nördlichen Teil des Wiener Beckens und dem nördlichen Burgenland aufgesucht. Dieser Einzugsbereich ist fast unbestritten. Krems, St. Pölten und Wiener Neustadt können sich im Hinblick auf die Größe ihres Einflußgebietes in diesem Rang mit Wien kaum messen.

Zwischen Ybbs und Wulka

Die folgende Stufe darüber nimmt die Landeshauptstadt in Anspruch. Die Landesregierung, der Diözesanbischof, eine Hochschule, Zentralmärkte, Spezialkrankenhäuser und Großbibliotheken haben dort ihren Standort. Wien ist zweifelsohne der zentrale Ort, der das Bundesland Niederösterreich damit bedient. Die einzige Ausnahme bildet der Raum westlich der Strengberge, denn von dort ist es bereits näher nach Linz. Aus dem gleichen verkehrsgeographischen Grund sind die Bezirke Amstetten und Waidhofen an der Ybbs in etwas abgeschwächter Form nach Wien ausgerichtet. Im Burgenland steht es anderseits der Bevölkerung frei, zwischen Eisenstadt und dem leicht erreichbaren Wien zu wählen. Im südlichen Burgenland gesellt sich zu diesen beiden Standorten noch Graz als Alternative hinzu. Wien füllt also auch die Mittelpunktsfunktion auf dem Grad einer Landeshauptstadt voll aus.

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