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Digital In Arbeit

Im Schnittpunkt von Stadt und Land

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Nach langen Jahren der Forschung legt uns das Institut für Raumplanung einen gut ausgestatteten Band vor. ln diesem Werk sind alle Ergebnisse genauer wissenschaftlicher Untersuchung enthalten, die man im Marchfeld erhalten konnte. Ebenso werden die Maßnahmen beschrieben, die auf Grund der über Struktur und Funktion dieses Landschaftsraumes erwor benen Erkenntnisse nun durchgeführt werden sollten. Insgesamt wird das Gesamtwerk als „Raumordnungsplan” bezeichnet.

Bisher wurde in Oesterreich noch nie ein 1000 Quadratkilometer großer Raum eingehend nach seiner augenblicklichen Lebensordnung geprüft, um aus den Ergebnissen Richtlinien für die künftige Entwicklung von Bevölkerung und Landschaft abzuleiten. Vielfach wird die Raumordnung mit dem Aufgabengebiet verwechselt, das einen. Flächen- und Bebauungsplan herstellen soll. Die Festlegung von Fluchtlinien und Gehsteigbreiten gehört gewiß nicht zum Aufgabengebiet der Raumordnung. Ihre Aufgabe ist es, eine Gesamtschau aller Lebensbereiche zu bringen, aus der dann die Leitlinien einer wünschenswerten Entfaltung hervorgehen können.

Gerade das Marchfeld mit seinen vielfältigen Problemen wurde von den Bundesländern Niederösterreich und Wien als Exerzierfeld der modernen Raumordnung ausersehen. Die Fragen der Lebensordnung waren dort so mannigfaltig und unüberschaubar geworden, daß sich eine Durchleuchtung der realen Verhältnisse nicht mehr aufhalten ließ. Die Sensationspresse stempelte das Marchfeld bis dahin als gefährliches Versteppungsgebiet ab, während anderseits die landwirtschaftliche Statistik von den volltechnisierten Betrieben die höchsten Produktionszahlen Oesterreichs gerade aus diesem Agrargebiet melden konnte.

Den Raumforschern wurde die Arbeit gewiß nicht leicht gemacht. Auf allen Beobachtungsgebieten, mangelte es an ausreichenden,(.Unter- wie eine naturräumliche Gliederung oder ein Hinweis auf die strukturelle Dynamik der ländlichen Bevölkerung. Die Schwierigkeiten wurden jedoch alle überwunden, und wir können uns nun ganz den Ergebnissen widmen.

Zuerst ist einmal das Marchfeld nicht allein als reines Landwirtschaftsgebiet anzusehen. Der Planungsraum befindet sich nämlich ganz i m Kraftfeld der Großstadt Wien, die ja selbst mit ihren Siedlungen weit in die Ebene hineingreift und auf diese Weise eine innige Verzahnung von städtischen und ländlichen Elementen schafft. Unter diesem Gesichtspunkt sind alle Regionalfragen zu betrachten. Ein Eigenleben des Raums ist kaum zu bemerken, da sich

Menschen und Wirtschaft vollkommen nach der Qroßstadt orientieren. Ein Drittel der nichtlandwirtschaftlich Erwerbstätigen muß täglich nach Wien zu den Arbeitsstätten pendeln, da das Marchfeld selbst, trotz der Erdölbetriebe, an ausreichenden industriell-gewerblichen Produktionsstätten einen Fehlbestand aufweist. Eine Ansiedlung von neuen Arbeitsstätten im Raum von Floridsdorf und Stadlau, im Nordbahngebiet sowie in Leopoldsdorf und Marchegg sollte nach den Empfehlungen der Raumforscher eine weitgehende Milderung im Spannungsverhältnis von Arbeitskräften und Arbeitsplätzen bewirken.

Einen anderen Punkt des Mißvergnügens bilden die umfangreichen wilden Siedlungen im Westteil der Ebene. Strukturmängel, verschiedenen Zwecken cįjenende Parzellen, ohne Zentren und extensiv genutzt, stellen ein Sanierungsproblem ersten Ranges dar. Nur unter großen finanziellen Opfern wird es zu lösen sein. Die individuelle Siedlungstätigkeit kapitalschwacher Bevölkerungsschichten hat hier einen Mißerfolg erlitten. Dazu kommt noch, daß die meisten Siedler nach Wien zur Arbeit fahren, aber von den dörflichen Gemeinden eine städtische Aufschließung verlangen.

Als recht kompliziert repräsentiert sich uns das augenblickliche System der Verwaltung im niederösterreichischen Abschnitt. In sehr vielen Fällen widerspricht die Verwaltungseinteilung der wirtschaftlichen und verkehrsmäßigen Ausrichtung in den Gemeinden. Wir wollen nur ein einziges Beispiel anführen: Die Gemeinden Sey- ring und Gerasdorf sind eindeutig auf Wien- Floridsdorf eingestellt. Als die Randgemeinden im Jahr 1954 nach Niederösterreich zurückkehrten, teilte man diese beiden Orte dem Verwaltungsbezirk Wien-Umgebung (Sitz in Wien I, Löwelstraße) und dem Bezirksgericht Floridsdorf-Umgebung zu. Im Jahr 1957 überlegte man es sich aber anders. Gerasdorf und Seyring gehörten von dieser Zeit an zum Bezirk Mistelbach und zum Bezirksgericht Wölkersdorf. Die Einwohner der beiden Gemeinden wehrten sich natürlich heftig gegen diese Sprengeleinteilung, da es immerhin für sie eine kleine Weltreise nach Mistelbach war, wenn sie im Wiener Stadtkern ihren Arbeitsplatz besaßen. Dem Protest der Bevölkerung wurde wirklich stattgegeben, und die beiden Ortsgemeinden kehrten in den Verband des Bezirks Wien-Umgebung zurück. Der Witz des Jahres ist ja nur, daß von da an die Gerasdorfer und Seyringer das Bezirksgericht in — Klosterneuburg (I) haben.

Um solchen widerspruchsvollen Einteilungen ein Ende zu bereiten, wird vom Institut für Raumplanung folgende Reform vorgeschlagen: Wiedererrichtung einer Bezirkshauptmannschaft Floridsdorf- Umgebung mit dem Sitz in Floridsdorf (Schnellbahnanschluß). Dazu sollten der Gerichtsbezirk Floridsdorf-Umgebung für die Gemeinden entlang der Nordbahn und im nordwestlichen Marchfeld, dann der Gerichtsbezirk Großenzersdorf mit allen Gemeinden des südlichen Marchfelds bis zur March (das Bezirksgericht’- Marehegg’oCäre :aufiulassen)l„s0Wiefi:j JŽE Gerichtsbežirk1 Wölkersdorf gehören. Auch Für die kirchliche Verwaltungsgliederung empfiehlt man einige Aenderungen: Nach der Umgestaltung der Verwaltungsgrenzen sollten die Dekanatssitze in die zentralen Orte verlegt werden — der Dekanatssitz Bockfließ nach Gänserndorf und der Dekanatssitz Marchegg nach Leopoldsdorf.

Ganz richtig wird im Raumordnungsplan Marchfeld festgestellt, daß man Kultur zwar nicht planen, aber doch die kulturelle Entwicklung planmäßig fördern kann. So dachten die Raumplaner besonders an eine /Intensivierung des kulturellen Lebens außer in den zentralen Orten Großenzersdorf, Gänserndorf und Wölkersdorf vor allem in den sogenannten „Hauptdörfern”. Das sind Orte, die heute schon bestimmte zentrale Funktionen (z. B. Arzt, Standesamt) für die sie umgebenden Gemeinden üoer- nommen haben. In absehbarer Zeit wird sich sicherlich eine Zusammenlegung der Kleinst- gemeinden im südlichen Marchfeld zu größeren Verwaltungseinheiten nicht mehr übergehen lassen. So wären in erster Knie Vortrags-, Gemeinschafts- und Kurssäle zu errichten. In ähnlicher Weise könnten Musikschulen organisiert werden, da auch sie das regionale Eigenleben fördern. Für das überragende Zentrum Floridsdorf wünscht man sich ein Theater, ein Großkino, ein Hallenbad, ein Sportzentrum und eine Volkshochschule.

Der Raumordnungsplan Marchfeld ist keineswegs ein verbindliches Gesetz, sondern er hat vorläufig nur den Charakter eines Fachgutachtens. Der Sinn der Raumplanung ist ja, den zuständigen Behörden endlich eine wissenschaftlich fundierte Uebersicht von allen Raumfragen zu vermitteln. Realisiert können die Vorschläge des Instituts für Raumplanung nur dann werden, wenn alle Gemeinden des niederösterreichischen Teiles den Richtlinien zustimmen und die Bundesländer Wien und Niederösterreich ebenfalls ihr Einverständnis dazu erklären. Vor allen Dingen ist es wichtig, daß die einzelnen Investitionen der verschiedenen Verwaltungsstellen auf den Raumordnungsplan abgestimmt werden. Es sollte eigentlich nicht mehr wie im Fall Sey- ring-Gerasdorf passieren, daß einzelne Verwaltungsstellen die Forschungsergebnisse einfach ignorieren. Denn nur die Mitwirkung aller Behörden, der gesamten Bevölkerung und ihrer gewählten politischen Vertreter wird die demokratische Durchführung der räumlichen Enr- wicklungsziele im Marchfeld sichern.

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