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Eine dominierende Stellung

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Alle diese Ermittlungen über den zentralen Rang und die entsprechenden Einflußbereiche sind nicht dem gefühlsmäßigen Ermessen der Raumforscher in der Akademie der Wissenschaften zu verdanken. Die Grundlage dieser Forschungen bildete eine ausführliche Fragebogenaktion, an der sich 3000 Gemeinden der Republik Österreich beteiligten. Die Analyse dieser Aussagen führte zu dem hier beschriebenen vielschichtigen Ergebnis.

Nun soll die Rolle Wiens als Bundeshauptstadt erforscht werden. In dieser hohen Funktion muß ein zentraler Ort der Standort aller wichtigen Staatsinstitutionen sein: Parlament, Bundesregierung, höchste Gerichte, .Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkammern, Staatstheater, größte Wirtschaftsunternehmen, riesiges Sportstadion. Werden aber diese Wiener Einrichtungen auch wirklich von allen Österreichern benützt? Anläßlich der letzten Wiener Integrationsenquete wurde die Befürchtung ausgesprochen, daß sich die westlichen Bundesländer in einer kommenden Wirtschaftsvereinigung mehr nach Zürich und nach München als nach Wien wenden würden. Die Befragung der Raumforschungskommission der Akademie hat allerdings keine Anzeichen dafür ergeben, daß derzeit die Stellung Wiens als funktionelle Bundeshauptstadt in Vorarlberg, Tirol oder Salzburg gefährdet wäre. Vorläufig also bleibt Wien auf dieser Rangstufe des zentralen österreichischen Systems dominierend.

Was ist aber eine Weltstadt? Die Geographen verstehen darunter eine Großstadt erster Ordnung, deren Wirkungsfeld Naturschranken und Staatsgrenzen überschreitet. Eine Weltstadt hat demnach Bedeutung für einen ganzen Erdteil oder die gesamte Welt, besitzt ein großes Pro- duktions- und Konsumationsvolumen, zählt eine aus vielen Ländern gebürtige Bevölkerung und unterhält gesteigerte internationale Wechselbeziehungen auf den Sachgebieten der Politik, Finanz, Hochschule, Forschung und Technik, Literatur, Kunst und Nachrichtenvermittlung. Gemäß dieser übernationalen Multifunktionalität ist die Weltstadt Sitz von weltumspannenden politischen und wirtschaftlichen Zentraleinrichtungen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Wenn wir die Gliederung nach voller, minderer und unzureichender Ausstattung beibehalten, so nimmt Wien derzeit die Stellung einer minder ausgestatteten Weltstadt ein. Die Basis dieser Rolle ist der Sitz der UN-Atomenergiekommission, also einer Organisation, die für die ganze Erdkugel Gültigkeit hat. Trotz der vielgestaltigen kulturellen Institutionen von hohem Rang sind deren Wirkungskreise keineswegs sehr weitreichend oder gar kulturraum- bildend. Unter dem Gesichtswinkel der zentralen Funktion betrachtet, dienen selbst Staatsoper und Burgtheater, abgesehen von den kurzfristigen sommerlichen Exposituren in Bregenz und Salzburg, nur einem relativ eng begrenzten Kreis von lokalen Interessenten und üben auf Nichtwiener und Ausländer nur die Anziehungskraft von touristischen Attraktionen aus.

Eine übernationale Aufgabe im Sinne einer Weltstadt erledigen hingegen die Wiener Hochschulen besonders für die Randstaaten des östlichen Mittelmeeres und den vorderen Orient. Die Strahlungskraft des Hochschulortes reicht aber auch nach Asien und Afrika und sogar bis nach Nordamerika und Australien, wenn auch mit abgeschwächter Intensität. Die große Zahl von jährlich stattfindenden internationalen Kongressen ist jedoch nicht als Weltstadtcharakteristikum zu werten, weil diese Zusammenkünfte von den betreffenden Organisationen nicht konstant in Wien durchgeführt werden. Die Kongreßstadt Wien ist vielmehr der Ausfluß einer städtebaulichen Ausstrahlung auf den Fremdenverkehr. Der Tourismus ist aber leider nicht zu den zentralen Aufgaben zu rechnen.

Wenn es auch in der Außenhandelsbilanz nicht so hervorragend in Erscheinung tritt, so üben in Wien zahlreiche Großhandelsfirmen eine Mittlerfunktion zwischen den ost- und westeuropäischen Wirtschaftsräumen aus, die der Donaustadt bestimmt den Charakter einer Weltstadt verleiht. Der Konsumentenkreis der Wiener Radio- und Fernsehsender außerhalb der österreichischen Staatsgrenzen läßt sich vorläufig noch nicht quantitativ erfassen. Man kann an Hand von verschiedenen Symptomen vermuten, daß die Sendungen aus Wien im östlichen Mitteleuropa regelmäßig gehört werden.

Gegenwart und Zukunft

Wenn wir das alles in Rechnung stellen, so ist Wien trotz der augenblicklich noch ungünstigen verkehrspolitischen Situation — die verkehrsgeographische Lage wäre ja ausgezeichnet — derzeit wirklich eine Weltstadt und nicht bloß eine „Weltstadt“. Die sechsfache Ausstrahlung dieses zentralen Knotens auf seine Umgebung zeugt von einer starken Lebensintensität, die erst dann immer klar erkannt wird, wenn die Wissenschaftler die tatsächliche Mittelpunktsfunktion und damit die verschiedenartige Rolle im Spiel der sozialen Kräfte objektiv beleuchten. Eine weitere Stärkung des höchsten zentralen Ranges, also der Weltstadtaufgabe, kann aber Wien in Zukunft nur dann erreichen, falls es gelingt, weitere Institutionen von europäischer oder weltumfassender Bedeutung für die Donaustadt zu gewinnen.

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