Identität in Zeiten großer Wanderungen

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Die 25. Sommerschule der Waldviertel Akademie beginnt mit einem grundsätzlichen und sehr persönlichen Referat der Journalistin Barbara Coudenhove Kalergi. In den Zeiten der großen Wanderungen werde jeder Einzelne selbst seine Identität finden müssen, werden heterogene Gesellschaften um Zusammenhalt ringen.

„Wo ist mein Heim, mein Vaterland?“ So beginnt die tschechische Nationalhymne. Ich sang sie in der ersten Klasse der Prager deutschen Volksschule und gleich anschließend die slowakische, etwas holprig in der deutschen Übersetzung: „Auf der Tatra blitzt und dröhnt und donnerkracht es“. In der zweiten Klasse sangen wir „Deutschland, Deutschland über alles“, denn inzwischen war aus meiner Heimat das „Protektorat Böhmen und Mähren“ geworden und ich als Angehörige der deutschen Minderheit Bürgerin des Deutschen Reiches. 1945 wurde unsere Familie aus Böhmen vertrieben, ich war jetzt Österreicherin und lernte im österreichischen Gymnasium „Land der Berge, Land am Strome“. Drei verschiedene Hymnen, drei verschiedene Staatsbürgerschaften, drei verschiedene Identitäten, innerhalb einer Kindheit. Aber wer war ich wirklich?

Ah, du bist Sudetendeutsche, sagten meine neuen österreichischen Landsleute. Nein, nein, setzte ich mich zur Wehr, ganz und gar nicht. Ich bin nicht aus dem Sudetenland, ich bin aus Prag. Verständnislose Blicke. Wo war da der Unterschied? Mein Vater hatte unsere Nationalität mit einer Definition des aufklärerischen Philosophen Bernard Bolzano beschrieben: Ich bin ein Böhme deutscher Zunge. Nach der Wende ging ich als ORF Korrespondentin in meine Heimatstadt Prag und musste neuerlich über meine nationale Identität Auskunft geben. Ach, Sie leben in Wien? Sie sind Emigrantin? Das nun auch wieder nicht.

Multikulti ist in Europa Realität

Mit dieser in nationaler Hinsicht etwas mehrdeutigen Biografie bin ich freilich keineswegs etwas Besonderes. Allein in Wien hat jeder vierte Einwohner einen so genannten Migrationshintergrund. Und wer öfters die europäischen Großstädte besucht, hat sich längst daran gewöhnt, in der U Bahn und auf den Märkten ebenso viele braune, gelbe und schwarze Gesichter zu sehen wie weiße. Multikulti ist schon lange keine Ideologie mehr, sondern eine Realität.

Was bedeutet das für eine Gesellschaft, die, wie die österreichische, ihrer Homogenität einen hohen Wert beimisst? Wir haben ein Bild von uns selbst, das stark traditionell geprägt ist. Wir schätzen den knorrigen Bergbauern, den kultivierten Wiener Hofrat, den fleißigen Kleinstadt-Gewerbetreibenden. Wir glauben zu wissen, wie „der“ Österreicher aussieht. Vom Ständestaat über die Nazizeit bis heute hat sich in den Köpfen ein Begriff des Österreichertums durchgesetzt, das immer weniger der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht. „Unsere“ Kultur, von der Sprache und dem Essen angefangen bis zu den Sitten und Gebräuchen, stellt sich zunehmend als eine gefährdete, ja, als eine belagerte Kultur dar. Viele Menschen fühlen sich in der Defensive – und das nicht nur deshalb, weil Kronen Zeitung und FPÖ sie dazu anstacheln. Zu viele Fremde, zu viele Ausländer werden als bedrohlich empfunden. Besteht die Gefahr, dass Österreich, wie wir es kennen, durch die vielen Neubürger eines Tages nicht mehr „unser“ Österreich sein wird? Solche Ängste sind zwar weit übertrieben, aber nicht völlig unberechtigt.

Das Land verändert sich und mit ihm seine Bevölkerung. Aber das ist nicht unbedingt etwas Neues. Am Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die österreichische und insbesondere die Wiener Gesellschaft ebenfalls stark verändert, weil vor allem aus Böhmen und aus Galizien zehntausende tschechische und jüdische Immigranten in die Hauptstadt strömten. Auch damals gab es eine vehemente antitschechische und antisemitische Propaganda. Auch damals fürchtete man Überfremdung und Kulturverlust. Aber die viel gepriesene Kultur Wiens um l900 mit seinen Höchstleistungen auf dem Gebiet der Literatur, der Kunst, der Musik und der Wissenschaft war ein Produkt dieser Blutauffrischung.

Heute scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Seit der Öffnung der Grenzen im Jahre l989 ist die Zuwanderung nach Österreich wie nach Europa allgemein sprunghaft gestiegen. Ihr Tempo hat viele Österreicher überfordert. Wie sehr, habe ich vor einigen Jahren erlebt, als ich mit anderen in einer Initiative namens „Land der Menschen“ mitarbeitete. Ein Jahr lang tourten wir unverdrossen durch großstädtische Gemeindebauten und ländliche Pfarrsäle, veranstalteten Publikumsdiskussionen und Bürgerversammlungen. Einige Begegnungen aus diesem Jahr sind mir in Erinnerung geblieben.

Ein Dunkelhäutiger mitten in Graz

Etwa die Veranstaltung in einer steirischen Ortschaft, in der sich eine Frau vom Lande zu Wort meldete. Sie komme nicht oft in die Stadt, sagte sie, aber neulich sei sie in Graz gewesen und da hätte sie zum ersten Mal im Leben einen Neger gesehen. Er stand mitten auf dem Jakominiplatz. Darf das sein? Die Frage war nicht provozierend gestellt, es war eine sachliche Bitte um Information. Das Publikum diskutierte die Frage ernsthaft und kam zu dem Schluss: Ja, er darf. Solange er nichts anstellt. Die Fragerin war zufrieden. Oder das Gespräch mit einem Wiener Gärtnertrupp, dessen Mitglieder sehr bestimmt erklärten, in ihre Mannschaft komme auf keinen Fall ein Ausländer herein. Freilich, einer der Gärtner war schokoladebraun. Wir waren ratlos. Aber dann hörten wir: Der? Ach, das ist doch kein Ausländer. Das ist der Mustafa.

Die große Frage nach Orientierung

Wie steht es um die Identität der zahlreichen Mustafas in Österreich und darüber hinaus in Europa? Wie kommen sie mit dem Dilemma zurecht, sich einerseits integrieren zu sollen und andererseits ihre Wurzeln und ihre eigene Kultur nicht vergessen zu wollen? Keine leichte Aufgabe, speziell für Eltern, die im neuen Land Kinder erziehen müssen. Ich unterrichte seit einem Jahr in einer Wiener Volksschule im Rahmen eines Programms namens „Mama lernt Deutsch“ muslimische Frauen. Fast alle tragen das Kopftuch, fast allen ist ihr Glaube wichtig. Sie wollen ihren Platz in der österreichischen Gesellschaft finden, deshalb lernen sie die Landessprache. Aber sie wollen auch sich und ihre Kinder vor echten und vermeintlichen Übeln schützen. Kinder brauchen einen besten Freund, eine liebste Freundin, wurde eine Psychologin zitiert. Befremden bei den Müttern. Liebe? Unter Kindern? Ich musste eilends erklären, dass nicht Sex gemeint war. Pippi Langstrumpf andererseits, nach meiner Befürchtung keineswegs ein Vorbild für eine brave Moslemtochter, fanden alle gut. Pippi handle immer gerecht, sagten die Kursteilnehmerinnen.

Wir leben in einer Welt, die sich rapide verändert. Das stellt große Anforderungen an Zuwanderer wie an Einheimische. Wohin soll man sich orientieren? Welche Werte sind unverrückbar, welche unterliegen einer Entwicklung? Woran muss man unter allen Umständen festhalten? Können mehrere verschiedene Kulturen nebeneinander bestehen? Was braucht es, damit eine heterogene Gesellschaft trotzdem nicht auseinanderfällt und in wesentlichen Fragen einen demokratischen Konsens zustande bringt?

Die eigene Identität zu finden, ist unter den heutigen Bedingungen keine Selbstverständlichkeit wie noch vor einer Generation, sondern eine Leistung. Man „erbt“ sie nicht mehr von den Eltern. Nation, Religion, Rang und Stand, politische Orientierung, der Platz in der Gesellschaft – all das schafft sich in zunehmendem Masse jeder selbst. Je komplexer die Umstände, desto schwieriger die Aufgabe.

Eigene Identität selbst erfinden

Eine meiner Nichten hat einen österreichischen Vater und eine amerikanische Mutter. Sie ist in England aufgewachsen, hat längere Zeit in Russland gearbeitet und lebt jetzt in den USA. Sie hat einen jüdischen Amerikaner geheiratet. Ihre Kinder sind katholisch getauft, aber in ihrer Familie werden sowohl Weihnachten und Ostern gefeiert wie auch Chanukka und Pessach. Der verstorbene Gelehrte Ralf Dahrendorf war sowohl ein deutscher Professor wie ein englischer Lord. Der tschechische Ex-Außenminister Karl Schwarzenberg bezeichnet sich selbst ebenso als tschechischen wie als österreichischen Patrioten. Moderne Biografien, alle keineswegs ungewöhnlich.

Lauter vaterlandslose Gesellen? Ist durch Menschen wie sie eine gesichtslose Mischmasch-Gesellschaft im Entstehen, in der gewachsene Kulturen verloren gehen und sich niemand mehr „daham“ fühlen kann? Ich denke, das muss nicht sein. Ich für meinen Teil bin jedenfalls ganz froh darüber, dass ich mir, nolens volens, meine eigene Identität selbst erfinden musste.

Die Referentin

* Barbara Coudenhove Kalergi

Der Text ist die leicht gekürzte Fassung ihres Eröffnungsvortrags der Waldviertel Akademie 2009

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