Der Grundbegriff: Gerechtigkeit

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Auch in der Praktischen Theologie ist eine grundlegende Revision der Prioritäten erforderlich. Für die Katholisch-Theologische Fakultät Wien ist es ein "neues" Fachgebiet: Erst seit Jahresanfang gibt es - durch Zusammenlegung der "Pastoraltheologie" und der "Religionspädagogik" - das "Institut für Praktische Theologie". Das Dossier, das in Kooperation mit dem neuen Institut entstanden ist, versucht, exemplarischen Fragestellungen dieser theologischen Disziplin nachzuspüren. Denn nicht zuletzt in der Praxis müssen sich Glaube, Kirche, Theologie bewähren. Redaktion: O. Friedrich.

Jünger/innen und Missionar/inn/e/n Jesu Christi zu sein mit der Sendung, dass unsere Völker in ihm Leben haben, bedeutet für uns, uns vom Evangelium her und in der Perspektive des Reiches Gottes den vordringlichen Aufgaben zuzuwenden, die zur Erlangung der umfassenden menschlichen Würde beitragen, und uns gemeinsam mit anderen Personen und Institutionen für die Erlangung des menschlichen Wohlergehens zu engagieren. Die barmherzige Liebe für alle, die in ihrem Leben auf irgendeine Weise verletzt worden sind, erfordert, wie uns der Herr in allen seinen Gesten der Barmherzigkeit zeigt, dass wir in allen dringenden Notfällen helfen und dass wir zugleich mit anderen Organisationen und Institutionen zusammenarbeiten, um gerechtere Strukturen sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene zu schaffen. Es müssen Strukturen geschaffen werden, die eine soziale, ökonomische und politische Ordnung festigen, in der es keine Ungleichheit gibt und wo alle über die gleichen Chancen verfügen. Ebenfalls bedarf es neuer Strukturen, die ein authentisches menschliches Zusammenleben fördern, die Übermacht einiger verhindern und einen konstruktiven Dialog für den notwendigen sozialen Konsens ermöglichen … Es ist erforderlich, dass die Werke der Barmherzigkeit begleitet werden von der Suche nach einer wahren sozialen Gerechtigkeit, die das Lebensniveau der Bürger/innen erhöht und sie zu Subjekten ihrer eigenen Entwicklung werden lässt. (Abschlussdokument der Bischofsversammlung von Aparecida, 384f, Übersetzung N. Mette)

Worin die Sendung besteht

Dieser beeindruckende Text ist dem Abschnitt "Reich Gottes, soziale Gerechtigkeit und christliche Caritas" aus dem Abschlussdokument der 5. Vollversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik entnommen, die im Mai 2007 im Wallfahrtsort Aparecida (Brasilien) stattgefunden hat. Prägnant bringt er auf den Punkt, worin die Sendung der Kirche in der Welt besteht: an der Auferbauung des von Jesus Christus angekündigten und in ihm angebrochenen Reiches Gottes mitzuwirken, und das bedeutet konkret, Barmherzigkeit zu praktizieren und sich für die Schaffung einer gerechten Gesellschaft einzusetzen. Mit ihrer Bekräftigung der vorrangigen Option für die Armen und Ausgeschlossenen (vgl. ebd., 391ff) machen die Bischöfe erneut deutlich, dass vom Evangelium her dieses den Christinnen und Christen und der Kirche aufgetragene Engagement mit einer konkreten Parteinahme verbunden ist.

Im Grunde genommen enthalten diese Aussagen zu einer "erneuerten Pastoral" (ebd., 399) nichts Neues, sondern geben pointiert wieder, was zum besten Allgemeingut der kirchlichen Sozialverkündigung und der katholischen Soziallehre zählt. Aber, so drängt sich mit Blick vor allem auf die hiesige kirchliche Landschaft die Frage auf, ist dies auch im allgemeinen kirchlichen Bewusstsein präsent? Und wo findet das seine konkrete Einlösung in der pastoralen Praxis?

Echte/falsche Kirchensorgen

Auch aus Europa könnte man eine Reihe von kirchlichen Stellungnahmen zu den aktuellen sozialen Herausforderungen anführen. Jüngstes Zeugnis dafür ist die "Botschaft der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung" vom September 2007, in der u. a. festgehalten wird: "Überall auf der ganzen Welt und in Europa führt der gegenwärtige Prozess einer radikalen Globalisierung der Märkte dazu, dass die Spaltung der menschlichen Gesellschaft in Sieger und Verlierer noch größer wird, der Wert von unzähligen Menschen nicht geschätzt wird und die katastrophalen Auswirkungen auf die Umwelt, vor allem der Klimawandel, mit der Sorge um die Zukunft unseres Planeten nicht vereinbar sind." Die europäischen Christ/inn/en werden dringend aufgefordert, Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut und zur Förderung des gerechten Handels zu unterstützen, sich für die Rechte ethnischer Minderheiten einzusetzen und sich für ökologische Gerechtigkeit zu engagieren.

Nüchtern ist festzustellen, dass sich die Kirchen zumindest im deutschsprachigen Raum weithin von anderen Sorgen in Beschlag nehmen lassen; es sind die Sorgen um die eigene Bestandserhaltung. Der verheißungsvollen Ermahnung "Sucht … zuerst das Reich und die Gerechtigkeit Gottes, und dies alles wird euch dazugeschenkt werden" (Mt 6,33) scheint man nicht recht zu trauen.

Eine solche problematische Verkehrung der Prioritäten ist allerdings nicht besserwisserisch den "anderen", vorab den Kirchenleitungen, vorzuwerfen. Sondern auch die Theologie, speziell die Praktische Theologie, hat einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass das innerkirchliche Bewusstsein für die Bedeutung der Gerechtigkeitsfrage als einer zentralen Dimension des christlichen Glaubens unterbelichtet geblieben ist. Diese Thematik fand man bei der Sozialethik gut aufgehoben, so dass sich die anderen theologischen Disziplinen als davon dispensiert wähnten. Das gilt auch für die Praktische Theologie; "Gerechtigkeit" als Grundbegriff spielt in ihr kaum eine Rolle - mit entsprechenden Auswirkungen auf die verschiedenen Bereiche der kirchlichen Praxis. Wenn es wahr ist, was in den erwähnten kirchlichen Dokumenten verlautbart worden ist, und wenn das denn auch in der hiesigen kirchlichen Praxis wirksam werden soll, dann ist eine grundlegende Revision der Prioritäten auch in der Praktischen Theologie - im Verbund natürlich auch mit den anderen theologischen Disziplinen - erforderlich.

Sehen - Urteilen - Handeln

Was das heißt, sei stichwortartig, dem methodischen Dreischritt "Sehen - Urteilen - Handeln" folgend, skizziert:

* Ohne die Errungenschaften, die in Gefolge der europäischen Einigungsbemühungen erzielt worden sind und die vielen Menschen zur Verbesserung ihrer Lebenslage verholfen haben, in Abrede stellen zu wollen, ist nicht zu übersehen - und dafür gilt es zuallererst die Augen zu öffnen! -, dass in Sachen Gerechtigkeit weiterhin eine erhebliche Schieflage besteht und dass sich die Spaltung zwischen denen, die am Wohlstand partizipieren können, und denen, die davon ausgeschlossen werden, immer mehr vergrößert. Auch innerhalb der Kirchen ist das hautnah zu erfahren; fragen doch immer mehr Menschen nach ihren karitativen Diensten nach und nehmen deren Angebote wahr, weil sie darauf angewiesen sind, um leben zu können.

* Mithilfe einer intensiven Beschäftigung mit den biblischen Grundlagen ist verstärkt ins Bewusstsein sowohl der Theologie als auch der kirchlichen Öffentlichkeit zu bringen, dass Glaube und Gerechtigkeit gewissermaßen die zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Mit der Formel "Beten und Tun des Gerechten" hat Dietrich Bonhoeffer treffend ausgedrückt, was Glaube im biblischen Verständnis heißt.

Beten und Tun des Gerechten

* Dabei ist für das biblische Gerechtigkeitsverständnis eine bestimmte Perspektive und Parteinahme charakteristisch: Gott zeigt seine Gerechtigkeit in der Weise, dass er sich mit den Opfern ungerechter sozialer Verhältnisse solidarisiert und für deren Rechte eintritt. Kriterium dieser Gerechtigkeit ist nicht die Norm-, sondern die Gemeinschaftsgemäßheit, die auf die Ermöglichung eines menschenwürdigen Zusammenlebens aller ohne soziale Spaltungen bedingende Unterschiede zielt. Dieses Gerechtigkeitsverständnis ist produktiv in den aktuellen wissenschaftlichen und politischen Gerechtigkeits-diskurs einzubringen, wobei es auch in intersdisziplinärer Zusammenarbeit mit anderen mit dem Thema befassten Wissenschaften seit einiger Zeit betriebene Bemühungen um von einseitig ökonomischen Interessen geleitete, prak-tisch folgenreiche semantische Neuaufladungen des Gerechtigkeitsbegriffs aufzudecken gilt.

* Christ/inn/en und ihre Kirchen sind weder die ersten noch die einzigen, die sich in Belangen der Gerechtigkeit engagieren. Für die Praktische Theologie gilt es darum, sich ein Bild zu verschaffen über die verschiedenen Initiativen, Projekte, Bewegungen etc. auf diesem Feld sowohl innerhalb und außerhalb der Kirche und von ihnen zu lernen.

Auch in den eigenen Reihen

* Auf allen Ebenen kirchlichen Wirkens ist - angefangen von der Verkündigung bis hin zur Diakonie - ein Bewusstsein für den konstitutiven Stellenwert des "Tun des Gerechten" für den Glauben zu schaffen und praktisch dazu anzuleiten. Den auf diesem Sektor tätigen Initiativen ist innerhalb der Kirche der dafür angemessene Stellenwert einzuräumen.

* Nicht zuletzt ist bei alledem auch mit Nachdruck die Frage nach der - defizitären - Gerechtigkeit innerhalb eigenen Reihen anzugehen und sind fällige Reformen in Angriff zu nehmen.

Der Autor ist Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Dortmund.

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