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Digital In Arbeit

Schrei ins Gewissen

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Man kann es voraussehen: Dem Sozialhirtenbrief der katholischen Bischöfe Österreichs wird es ähn- lich ergehen wie den Sozialrund- schreiben der Päpste: Den einen wird er angesichts des wachsenden Wohlstandes zu negativ sein, den anderen zu wenig sozialkritisch und vor allem: ohne konkretes Aktions- programm.

Jeder hat das Recht, ein Sozial- dokument, das sich bewußt an alle Menschen guten Willens richtet, von seinem Standpunkt aus zu beurtei- len. Die österreichischen Bischöfe haben im Vorbereitungsprozeß den Dialog gesucht und werden auch nach der Veröffentlichung des Sozi- alhirtenbriefes für eine konstrukti- ve Kritik dankbar sein. Vielleicht dient es diesem'Dialog jenen Hin- tergrund aufzuzeigen, der den Bi- schöfen vorgegeben war und aus dem heraus sie ihren Hirtenbrief schrieben: die katholische Sozial- lehre.

Der unverzichtbare Grundstein: das Menschenbild

Wenn die Kirche Aussagen über Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft macht, dann geht es ihr nicht zuerst um die Steigerung des Sozialpro- duktes oder die Vergrößerung der Organisationsmacht der Verbände. „Der Mensch ist der Weg der Kir- che" , so steht es in der katholischen Soziallehre. Diese Aussage wird sehr konkret verstanden. Weil je- der Mensch als Bild Gottes geschaf- fen und durch Christus zu einem jenseitigen Ziel berufen ist, hat er eine einmalige, unverzichtbare Würde. Aufgabe der Kirche ist es, mit dafür zu sorgen, daß dieser „Plan Gottes mit den Menschen" in allen Bereichen des Lebens, auch in Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft verwirklicht wird. Darum hat sie das Recht, aber auch die Pflicht die sittlichen Grundsätze für die Ord- nung von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft zu verkünden.

Der Dienst der Sozialkritik

Das Evangelium gibt keine Aus- kunft über die Gestaltung der Pro- duktionsverfahren und über die Organisation der Märkte. Die Kir- chekennt kein „katholisches" Wirt- schafts- oder Sozialsystem. Wohl aber muß sie konkrete Wirtschafts- und Sozialsysteme dahin überprü- fen, ob sie die jedem Menschen vorgegebene Zielverwirklichung ermöglichen, erschweren oder ver- hindern. So hat die Kirche den libe- ralistischen Kapitalismus abge- lehnt, weil er den Menschen unter ein „sklavenähnliches Joch" spann- te. Sie hat aber ebenso den Kollek- tivismus verurteilt, weil er die Frei- heit des Menschen zerstörte.

Die Kirche muß aber auch andere Wirtschafts- und Sozialsysteme kritisch hinterfragen, wenn sie der Überzeugung ist, daß die Würde des Menschen und die Verwirkli- chung seines Zieles bedroht sind. Hier muß die Kirche auch konkret sprechen. Sie kann zum Beispiel die Tatsache der Arbeitslosigkeit nicht stillschweigend hinnehmen, auch nicht die Diskriminierung der Frauen, die Tötung des ungebore- nen Lebens und die Bedrohung der Natur und Umwelt. Natürlich weiß auch die katholische Soziallehre, daß es die ideale Welt nicht gibt und daß manche Probleme nur langfristig gelöst werden können. Aber sie darf es um des Menschen willen nicht hinnehmen, daß Ar- beit, Wirtschaft und Gesellschaft einem blinden Mechanismus oder der Macht der Stärkeren überlas- sen werden.

Der Impuls der Freiheit

Aus dem Menschenbild der Kir- che ergibt sich von selber ein Kern- satz der katholischen Soziallehre, den das Zweite Vatikanische Kon- zil so formuliert hat: „Der Mensch ist Ursprung, Träger und Ziel" des wirtschaftlichen und gesellschaft- lichen Lebens. Dieser Satz hat weit- reichende Folgen. Er besagt positiv ein Bekenntnis zur persönlichen Initiative und Verantwortung des Menschen in Wirtschaft und Ge- sellschaft und negativ die Ableh- nung einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bevormundung durch den Staat oder andere kol- lektive Mächte.

Dieser Satz enthält aber auch eine schwere Hypothek. Die katholische Soziallehre weiß nur zu gut, daß Menschen ihre Freiheit mißbrau- chen können, zum Schaden für sich selber und für andere. Darum kommt es entscheidend darauf an, daß diese Freiheit eingebunden und orientiert wird: eingebunden in die sittliche Verantwortung des Gewis- sens und eingebunden in die zwi- schenmenschliche Solidarität.

Der schwere Weg der Solidarität

Dadurch unterscheidet sich die katholische Soziallehre von zwei Ideologien: der einen, die der Frei- heit des einzelnen alles überläßt und der anderen, die im Kollektiv das Heil erwartet. Das Menschen- bild der katholischen Soziallehre ist wesentlich auf das „Du" hinge- ordnet, aber nicht so, daß es im „Wir" untergeht, sondern, daß es in der Gemeinschaft zur vollen Ent- faltung kommt. Darum besagt Leben in der Gesellschaft Verpflich- tung, aber auch Grenze.

Leben in Gesellschaft besagt aber vor allem eine Vielfalt. Es verwirk- licht sich in der Lebens- und Lie- besgemeinschaft von Ehe und Fa- milie, in der Nachbarschaft und Ortsgemeinde, in Arbeit und Be- trieb, in Freizeit und Kultur, in politischen Gruppierungen, in reli- giösen Gemeinschaften. Das, was die einzelnen Lebensgemeinschaf- ten aus sich heraus zu leisten im- stande sind, darf ihnen nicht von einer übergeordneten Gemeinschaft abgenommen werden. Dadurch, daß die einzelnen Gesellschaftsbereiche in Eigenverantwortung ihr Leben gestalten, knüpfen sie ein Netz von Solidarität, das Menschen sozial be- heimatet und Mitmenschlichkeit mobilisiert, das obrigkeitlich nicht verordnet werden kann. Trotzdem braucht es immer auch die ergän- zende und oftmals entscheidende Gemeinwohlsorge des Staates.

Die größere Not

Darüber ist sich die Soziallehre der Kirche im klaren: Sicher gibt es auch in den Industrieländern eine soziale Frage. Es gibt Menschen und gesellschaftliche Gruppen, die benachteiligt sind. Es gibt Unrecht und Ausbeutung, auch wenn sie nicht mehr so grotesk in Erschei- nung treten wie früher. Es gibt soziale Blindheit und eine Abge- stumpftheit, die besorgt machen.

Aber heute „ist die soziale Frage weltweit geworden" und hat Aus- maße angenommen, die zur Tragö- die der Dritten Welt geführt haben. Keines der bisherigen Sozialrund- schreiben der Päpste ist auf so viel Widerstand gestoßen wie die Enzy- klika Johannes Pauls II. über Ent- wicklung und Frieden. Der Papst begnügt sich nicht mehr mit Aussa- gen über Ungerechtigkeit und Ego- ismus. Er spricht von der Wirklich- keit der Sünde und von Strukturen der Sünde, die in den Industrielän- dern für das Elend der Dritten Welt mitverantwortlich sind. Er nimmt die Kirche selber hart beim Wort und verpflichtet sie zum radikalen Zeugnis. Nach der katholischen Soziallehre besteht die große Her- ausforderung der Menschheit im letzten Jahrzehnt des zweiten Jahr- tausends in der Überwindung der Armut und des Elends der Entwick- lungsländer.

Der zweifache Weg

Die katholische Soziallehre hat sich immer gegen zwei Utopien zur Wehr gesetzt. Die erste glaubt, es kommt im gesellschaftlichen Le- ben einzig auf die Verbesserung des sittlichen Verhaltens der Menschen an. Gelingt es, die Herzen und Gesinnungen zu verändern, so ändern sich die gesellschaftlichen Strukturen von selber. Die zweite Utopie vertritt das Gegenteil. Die entscheidende Ursache für zwi- schenmenschliche Konflikte und asoziales Verhalten liegt in den ungerechten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen. Darum muß alles getan werden, um die ungerechten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einrichtun- gen und Mechanismen zu verän- dern. Ist das geschehen, dann er- gibt sich daraus geradezu von sel- ber der gute Mensch und das größte Glück der größten Zahl.

Die katholische Soziallehre ist anderer Meinung. Zuständereform und Gesinnungsreform müssen gleichzeitig und mit gleicher Inten- sität angestrebt werden. Darum wird die Kirche immer wieder die wirtschaftlichen und gesellschaft- lichen Strukturen kritisch hinter- fragen. Aber sie wird ebenso ein- deutig darauf bestehen, daß der Mensch nicht das automatische Produkt wirtschaftlicher und ge- sellschaftlicher Vorgänge ist, son- dern, daß er zur Freiheit und Ver- antwortung fähig und berufen ist.

Der Vorrang des Handelns

Die katholische Soziallehre ist aus der Not der Menschen entstanden. Ihr ging es nie zuerst darum, wis- senschaftliche Theorien aufzustel- len. Sie wollte ein Schrei in das Gewissen und eine Verpflichtung zum Tun sein. Der Sozialhirten- brief der katholischen Bischöfe Österreichs hat das gleiche Ziel. Hoffentlich wird das zumindest von den Katholiken verstanden. Es geht nach dem 15. Mai nicht darum, ob die Bischöfe zu scharf oder zu wenig scharf gesprochen haben, ob sie diesen oder jenen Punkt übersehen haben. Entscheiden wird das sozia- le Handeln. Und dafür ist in Öster- reich im Blick auf das Jahr 2000 mehr als genug zu tun.

Der Autor ist Professor für Sozialethik an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.

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