Spediteure des Elends

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Die Flüchtlingstragödie in Dover kann sich überall an der EU-Außengrenze wiederholen. Auch im Burgenland, wo das Bundesheer seit zehn Jahren im Grenzeinsatz steht.

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Die Flüchtlingstragödie in Dover kann sich überall an der EU-Außengrenze wiederholen. Auch im Burgenland, wo das Bundesheer seit zehn Jahren im Grenzeinsatz steht.

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Wenn Sie sehen, dass wir uns opfern und unser Leben aufs Spiel setzen, dann ist es, weil wir in Afrika zu sehr leiden und Ihre Hilfe brauchen." Der Brief, dem diese Zeilen entnommen sind, und die Umstände, die zur Auffindung des Schreibens führten, sorgten im Sommer letzten Jahres für einen Aufschrei des Entsetzens über Europas unmenschliche Einwanderungspolitik. Ein 14- und ein 15-jähriger Afrikaner wurden tot im Fahrwerkschacht eines Flugzeugs gefunden. Erfroren beim Versuch, der Armut zu entfliehen.

Kaum ein Jahr später lenkt eine Flüchtlingstragödie im englischen Dover die öffentliche Aufmerksamkeit erneut auf das im wahrsten Sinne des Wortes grenzübergreifende Problem der illegalen Zuwanderung. 58 Chinesen - von Schleppern versteckt und erstickt in einem luftdicht verschlossenen Gemüsecontainer - fand die Grenzpolizei in Dover. Kein Vergleich beider Unglücke ist zulässig, doch das Motiv, das zum Tod im Fahrwerkschacht und im Lastwagencontainer führte, war dasselbe: der verheißene Wohlstand hinter den Grenzen Europas.

Diese grauenhafte Entdeckung wird Dover zum Synonym für jene Orte machen, an denen die Reisen der illegalen Immigranten ihr unfreiwilliges Ende finden: tot oder lebendig. Denn Endstationen wie Dover gibt es nicht nur auf der britischen Insel, sondern über den ganzen Kontinent verteilt: Algeciras, Brindisi, Nickelsdorf und unzählige andere Grenzorte mehr. Seit 1995 sind sie endgültig durch den Namen einer weiteren Grenzstadt verbunden: Schengen. Der Winzerort an der Mosel, wo Deutschland, Frankreich und die Beneluxländer sich treffen, stand Pate für den EU-Vertrag zur Aufhebung der Personenkontrolle in der Union und der verstärkten Kontrolle an deren Außengrenze. Die Schengen-Grenze trennt die EU vom Rest der zumeist ärmeren Welt und macht aus der Rede von der Festung Europa Wirklichkeit.

Schengen sollte dem EU-Binnenmarkt dienen. Ungewollt verhalf es daneben einem anderen Markt zu Profiten und Prosperität. Denn je stärker Europa seine Grenzen abschottet, je restriktiver die Einwanderungsgesetze in der EU gehandhabt werden, desto wichtiger werden die Schlepper, desto lukrativer wird ihr Geschäft, Schlupflöcher im Schengener Wohlstandswall zu finden. Spezialisten zur Sicherung der Grenze verlangen nach Spezialisten für den Weg über die Grenze. Bis zu 300.000 Menschen überqueren, laut Schätzung des International Centre for Migration Policy Development, jährlich illegal die Grenzen der Europäischen Union. Mehr als die Hälfte kommt im Schlepptau von Schleusern. An ihrer Schmuggelware Mensch verdienen sie so gut wie an Haschisch, Kokain und Heroin. Der Jahresprofit des boomenden Wirtschaftszweigs soll sieben Milliarden Dollar ausmachen, und Kriminalexperten gehen davon aus, dass sich künftig mit Menschenschmuggel mehr Geld verdienen lässt als mit dem Handel von Drogen.

Wie bei der Suchtgiftkriminalität sind auch in der Schlepperei die Rollen der Guten und Bösen eindeutig verteilt. Die Bösen sind die Schlepper, die das Elend der Fluchtwilligen ausbeuten, ihnen das Geld abknöpfen und sie ihrem Schicksal überlassen, oder - noch schlimmer - sie in Abhängigkeit bringen und sich dann jahrelang an ihrer Arbeit bereichern, was für die Frauen zumeist in der Prostitution endet.

Die Rolle der Guten, besser gesagt der Armen, ist für die Flüchtlinge reserviert. Sind sie politisch verfolgt, gehört ihnen alle Sympathie, heißen sie Wirtschafts- oder Wohlstandsflüchtlinge werden sie schon weniger gemocht. Doch egal: Die Grenze macht alle gleich und manche sogar reich. An der Grenze kann sich der böse Schlepper reinwaschen und zum Fluchthelfer werden, der Verfolgte vor ihren Verfolgern rettet, Arme in den relativen Reichtum führt und mit den in weiterer Folge an die Daheimgebliebenen überwiesenen Geldern ganzen Regionen den Wohlstand beschert.

Auch die politischen Reaktionen auf den Menschenschmuggel gleichen den Lösungsvorschlägen, die bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität gemacht werden. Fordern die einen eine Liberalisierung der Einwanderungsgesetze, um den Schleppern die Grundlagen zu entziehen, setzen die anderen auf bessere Überwachung und Strafen.

Letztere darf als österreichische Haltung in dieser Frage angesehen werden. "No tolerance"-Politik wird sie anderswo genannt. Erfolgreich ist sie fast überall, weniger was die nachhaltige Lösung der Probleme angeht als vielmehr was die Popularität im Wahlvolk betrifft. Zehn Jahre Bundesheer an der Ostgrenze: 2.100 Soldaten stationiert, 43.600 Illegale gefasst, darunter tausende Schlepper. Das ist doch was, das gibt Sicherheit.

Vermeintliche Sicherheit. Die meisten Leute, die sich in Fragen der Migration auskennen, geben zu, dass der Versuch Grenzen abzuschotten, gescheitert ist. Trotzdem wird vor allem aus politischer Motivation heraus der Eindruck erweckt, dass man etwas unternimmt, dass man die Lage im Griff hat. Verschärfte Grenzkontrollen sind dazu eine gut sichtbare und im ersten Moment plausible Methode. Aber durch verstärkte Repressionsversuche lässt sich der lukrative Menschenschmuggel nicht abschrecken. Im Gegenteil, er wird sich noch tiefer im kriminellen Untergrund ansiedeln. Ohne Schlepper wird nichts mehr gehen, und die Leute werden immer verzweifelter sein und dann auch unvernünftige Dinge tun, um in das verheißene Land zu gelangen. Noch unvernünftigere Dinge vielleicht als sich in einen luftdichten Container zu begeben.

Auf lange Sicht wird allein ein Ausgleich des Wohlstandsgefälles den Schleppern ihr Geschäft entziehen. Kurz- und mittelfristig aber lassen sich Katastrophen - wie jene in Dover - bloß verhindern, wenn die Regierungen nicht nur die Bekämpfung des Schlepperwesens gemeinsam vorantreiben, sondern Immigranten auch legale Wege für die Einreise zur Verfügung stellen.

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