EU-Türkei: Mit Menschen spielen

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Der türkische Präsident Erdoğan betreibt ein perfides Spiel mit dem Leben von Flüchtlingen und Migranten. Doch die Konzeptlosigkeit Brüssels und die martialische Rhetorik Wiens sind gleichfalls zynisch.

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Der türkische Präsident Erdoğan betreibt ein perfides Spiel mit dem Leben von Flüchtlingen und Migranten. Doch die Konzeptlosigkeit Brüssels und die martialische Rhetorik Wiens sind gleichfalls zynisch.

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Neue „hässliche Bilder“ haben Europa wachgerüttelt. Und nein, damit sind nicht jene aus Flüchtlingslagern auf griechischen Inseln gemeint, wo über 40.000 Männer, Frauen und Kinder seit Jahren unter unwürdigsten Zuständen ausharren müssen. An solche Szenen hat sich Europas Öffentlichkeit, die zuletzt in anwachsendem Panikmodus mit dem Zählen von „Corona“-Fällen beschäftigt war, scheinbar längst gewöhnt.

Die „hässlichen Bilder“, von denen hier die Rede ist, hat Recep Tayyip Erdoğan bewusst inszeniert – als Trumpf in einem zunehmend menschenverachtenden Pokerspiel mit der EU: In Bussen ließ der türkische Präsident Flüchtlinge aus Syrien, vorwiegend aber aus Afghanistan und dem Iran, an die griechische Grenze bringen und ihnen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen („die Tore nach Europa sind offen“) Hoffnung auf ein besseres Leben machen. Die völlig überlasteten griechischen Behörden reagierten mit Tränengas und dem Aussetzen des Asylrechts, Bürgerwehren begannen sich zu formieren, es roch nach Pogromen. Erst dies zusammen mit Erdoğans Aussicht auf „mehrere Millionen Flüchtlinge“ – und damit auf ähnliche Szenen, wie sie sich 2015 abgespielt hatten – ließ die EU reagieren.

Die offizielle Rhetorik gegenüber Ankara war absehbar: Europa sei nicht erpressbar, heißt es. „Wir werden die Stellung halten und einig bleiben“, betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die eine Stärkung der EU-Grenzschutzbehörde Frontex sowie 700 Millionen Finanzhilfe versprach. Martialischere Töne kamen indes aus Wien: Erdoğans Aktion sei ein „Angriff auf die EU und Griechenland“, meinte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), sekundiert vom grünen Vizekanzler Werner Kogler. Man werde ihm „die Stirn bieten“.

Motive für Erdoğans zynische Aktion

Die realen Machtverhältnisse stellen sich freilich anders dar. Faktum ist, dass weniger die Schließung der Balkanroute als der 2016 geschlossene Pakt mit der Türkei die Flüchtlingsbewegung nach Europa deutlich und nachhaltig dezimieren konnte. Gegen Zahlung von sechs Milliarden Euro verpflichtete sich Ankara, Schulen zu bauen und Hilfsprojekte zu starten. 1,7 Millionen Syrer bekamen Monat für Monat Sozialhilfe auf eine Kreditkarte – ein letzter Rest von Selbstbestimmung, der Motivation sein konnte, auszuharren. Doch der Pakt lief aus – ohne Zusicherung weiterer Unterstützung durch die EU. Zudem steht Erdoğan selbst unter Druck: Der Widerstand gegen die über 3,5 Millionen Flüchtlinge im Land – mehr als dreimal so viele wie in der gesamten EU – wächst; und an der syrischen Grenze droht eine neue Flüchtlingsbewegung aus der umkämpften Provinz Idlib (als Folge der eigenen türkischen Offensive).

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