AM BRUNNEN DER ALLMACHT ERDOGANS

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Völker mit einer jahrhundertealten politischen Kultur können vom Gift der falschen Entscheidung ein Lied singen, oder sie weben daraus das eine oder andere Sprichwort. Das Folgende sagt man in der Türkei, wenn sich jemand in etwas verrannt hat und nicht mehr aus dem Irrgarten seiner Meinungen und Wahrnehmungen findet: "Wenn ein Narr einen Stein in den Brunnen wirft, schaffen es hundert Intelligente nicht, ihn herauszuholen." In diesen Tagen möchte man dem türkischen Präsidenten den einhundertundersten Intelligenten wünschen, der ihn in seinen politischen Fehlern bremsen könnte. Aber jene, die das vermögen, so steht zu befürchten, sitzen im Gefängnis oder werden im Gefängnis landen, wenn sie ihre Ratschläge allzu laut formulieren.

Der Putschversuch von Teilen des Militärs hat nun das Schlechteste in der politischen Kultur der größten Nation im Nahen Osten hervorgebracht. Nun herrschen in den Straßen Lynchjustiz und ein Mob regiert, der nur noch auf eine Stimme hört: die des Präsidenten. Wer dabei nicht mitmachen will, der bleibt in diesen Tagen zuhause und verriegelt die Tür, so er oder sie kein Märtyrer in eigener Sache werden will.

Wer nun ein solches Land unumschränkt regieren kann, wie Recep Tayyip Erdogan und seine AKP, der verliert schnell die Bodenhaftung. Es muss dieses Allmachtsgefühl sein, das die AKP sogar den USA mit Krieg drohen lässt, wie das der Premierminister Yıldırım getan hat, für den Fall, dass der angebliche Drahtzieher des Umsturzversuchs, Fethullah Gülen, nicht ausgeliefert wird.

Die konstruierte Wahrheit

Dass seit Freitag in der Türkei die Demokratie verteidigt wird, ist bloß die Illusion einer Wahrheit, eine Rhetorik, die sich unverhohlen auf Allah beruft und damit das laizistische Fundament dieser Demokratie versenkt. In der Tat scheint es, als hätten sich die angeblichen Streiter für die Freiheit der Türkei die Militärputschisten aus den finstersten Zeiten der jüngeren Geschichte zum Vorbild genommen.

Damals, 1971 wurden nach dem Putsch rund 10.000 Personen festgenommen, unter unwürdigsten Bedingungen festgehalten und zum Teil gefoltert. Zeitungen und Zeitschriften wurden ebenso verboten wie politische Parteien. Genau so wird es in der Türkei 2016 passieren, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen. In den 70er-Jahren versprach das Militär weitgehende wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen, wie eine durchgreifende Alphabetisierungskampagne, eine Landreform und die Bekämpfung der Korruption. Ähnliches wird in den kommenden Wochen geschehen. Warum? Weil Versprechen immer ein perfekter Verhüller negativer Fakten und ungesetzlicher Taten sind. Wie in den 70er-Jahren werden diese Reformen nicht umgesetzt werden, aber diese Nachricht wird aufgrund der Medienzensur die türkische Öffentlichkeit niemals erreichen.

Peinliche Miene zum bösen Spiel

Und die Außenwelt? Die USA und die NATO werden peinlichberührte Miene zum bösen Spiel machen. Man wird ermahnen und drohen. Aber letztlich wird das nichts ändern. Denn die USA sind auf die Türkei angewiesen, auf ihre Militärstützpunkte und ihre strategische Lage. Die Europäische Union wird aber in eine noch größere Bredouille als die Vereinigten Staaten kommen. Denn Erdogan und seine AKP sind zu den Gatekeepern des EU-Flüchtlingsproblems geworden. Wenn sie die Grenzen Richtung Europa öffnen, können sie EU-Regierungen ins Wanken bringen - und sie wissen das.

Die EU wird also weiter bezahlen. Jede Hoffnung auf Zurückhaltung des Regimes in Ankara ist verfehlt: Wer sein Volk mit Holzstöcken gegen Panzer marschieren lässt, wird nicht davor zurückschrecken, auch Flüchtlinge als politische Waffe einzusetzen. Mehr noch: Erdogan könnte die Flüchtlingskarte auch dann spielen, wenn es darum geht, das finanzielle Chaos zu bezahlen, das er selbst gerade anrichtet (Währungsverfall, Investitionsausfälle, Arbeitslosigkeit).

Im Vordergrund der Überlegungen der EU muss stehen, die Abhängigkeit von der Türkei zu senken. Das heißt, die Friedensbemühungen mit Syrien voranzutreiben (auch wenn der Frieden mit dem Verbleib von Assad-Gefolgsleuten in der syrischen Regierung verbunden ist und der Diktator selbst nicht vor Gericht gestellt wird). Zweitens: eine europäische Grenzsicherung, die im Verbund mit den Mittelmeer-Anrainerstaaten gestaltet wird und eine Politik integriert, die das wirtschaftliche Fortkommen der Flüchtlinge in den Lagern der UNO sichert.

Diese Strategie ist die einzige, die Erdogans Erpressungspotenzial minimiert. Je eher man daran arbeitet, desto mehr Mittel gibt sich EU selbst in die Hand, für demokratische Reformen in der Türkei zu arbeiten. Es wäre so, als würde sie Erdogan einfach bei dem sprichwörtlichen Brunnen stehen lassen, in den er seine Steine wirft. Europa müsste einen neuen Brunnen bauen für die Millionen von Intelligenten, die ab nun schweigen müssen.

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