Die Weisheit der türkischen Wähler

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Bei den Wahlen in der Türkei wurde Premierminister Erdogan eindrucksvoll bestätigt. Doch nun müssen einschneidende Reformen folgen, meint die SZ.

Die Türken haben gewählt. Alles bleibt beim Alten? Von wegen. Jetzt stehen die wirklich wichtigen Entscheidungen an. In den nächsten ein, zwei Jahren wird das Gesicht der neuen Türkei Konturen annehmen. Es geht um nicht weniger als darum, ob das Land den Sprung von einer Demokratie auf Krücken zu einem wirklichen Rechtsstaat schafft.

Die Türken haben ihren Premier mit einem Traumergebnis belohnt für die Arbeit der letzten neun Jahre. Und sie haben ihm gleichzeitig seine Grenzen aufgezeigt: Die Zweidrittelmehrheit bleibt ihm verwehrt. Und das ist ein Glück.

Überhaupt darf man die Türken zu ihrem gesunden Menschenverstand beglückwünschen. Erneut hat sich das Volk für Stabilität entschieden. Kurdische Politiker durften erstmals in ihrer Muttersprache Wahlkampf machen. 78 Frauen ziehen ins 550 Mitglieder starke Parlament ein: immer noch sträflich wenig, aber so viele wie noch nie. Anders als noch vor vier Jahren spielten ideologische Grabenkämpfe keine große Rolle. Den Vorwurf, Erdogan wolle die Türkei in einen Gottesstaat verwandeln, haben seine innenpolitischen Gegner längst zu Grabe getragen, es nahm ihnen schon lange keiner mehr ab.

Ein Sieg der Pragmatiker

Die Türken sind Pragmatiker bis ins Mark. Sie haben Erdogan diesen Sieg geschenkt - nicht weil er ein frommer Muslim ist, sondern schlicht, weil er ihnen ein besseres Leben geschenkt hat: Mehr als acht Prozent Wachstum, von allen G-20-Staaten wuchs zuletzt nur China schneller. Erdogan hat die Türkei zu einem selbstbewussten Akteur in der Region gemacht; den Menschen gefällt das. Erdogans vielleicht größtes Verdienst ist es, die politische Macht des Militärs gebrochen zu haben, nebenbei hat er den Christen und Kurden im Land neue Freiheiten geschenkt. Der gern den Volkstribun spielende Politiker hat sein Land vielleicht so stark verändert wie kein Staatsführer seit Republikgründer Atatürk. Aber das reicht nicht.

Die marode Justiz, der Hang zur Zensur, die noch immer ungeheuerliche Benachteiligung von Frauen - vieles von dem, was Europäer der Regierung an Menschenrechtsverletzungen vorwerfen, hat seine Wurzeln in Wirklichkeit in der undemokratischen Verfassung des Landes, die ein Erbe des Putsches von 1980 ist.

Eine neue Verfassung

Die Türkei braucht dringend eine neue Verfassung. Sie braucht eine echte Aussöhnung mit den Kurden. Und neue Leidenschaft für den eingeschlafenen Beitrittsprozess mit der Europäischen Union. Erdogan kündigte kurz vor der Wahl an, ein eigenes EU-Ministerium einrichten zu wollen. Nur Fassade? Erdogan sollte es selbst besser wissen. Die These, wonach die Türkei die Europäer von Tag zu Tag weniger brauche, stimmt nicht. Das Land am Bosporus mag im Moment als Bollwerk der Stabilität in einer von Unruhen und Gewalt erschütterten Region erscheinen, aber garantiert ist diese Stabilität nicht. Der Wirtschaftsboom, die außenpolitische Reputation, die demokratischen Fortschritte - das alles kann schon morgen kippen. Dann nämlich, wenn nicht der institutionelle Rahmen geschaffen wird, wenn nicht Gewalt und Gegengewalt durch eine Lösung der Kurdenfrage für immer aus der Welt geschafft werden.

Das Wahlergebnis ist nicht nur ein Geschenk an Erdogan, es ist auch ein Zeichen, dass die Bürger der Opposition noch immer misstrauen. Beide, Erdogan und die Opposition, waren bislang Polarisierer. Beide müssen nun zusammenarbeiten. Es braucht dafür einige radikale Kurswechsel. Das wäre ein Wunder? Dann wartet die Türkei auf ein genau solches.

Aus Süddeutsche Zeitung, 14. Juni 2011

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