"Wir müssen auf unsere Brüder schießen"

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Seit der Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im vergangenen November richtet sich das Interesse der Weltöffentlichkeit wieder verstärkt auf das Schicksal der Kurden in der Türkei. Noch vor diesen Ereignissen, im Herbst 1998, bereiste der Autor die Kurdengebiete im Osten des Landes. Die Eindrücke von damals verdichten sich nochmals zur beklemmenden Aktualität.

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Seit der Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im vergangenen November richtet sich das Interesse der Weltöffentlichkeit wieder verstärkt auf das Schicksal der Kurden in der Türkei. Noch vor diesen Ereignissen, im Herbst 1998, bereiste der Autor die Kurdengebiete im Osten des Landes. Die Eindrücke von damals verdichten sich nochmals zur beklemmenden Aktualität.

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Amphitheatralisch steigt die "Weiße Stadt" Mardin, die ihren Beinamen den hellen Sandsteinhäusern verdankt, den Berg hoch. Eine amerikanische Radar-Station blickt, wie auf vielen Gipfeln Ostanatoliens, tief hinein nach Syrien und in den Irak. Im "Lokantansi", dem Gasthaus, sitzt am Nebentisch eine Familie aus Bursa. Papa und Mama, die in der Nähe der einstigen Hauptstadt des Osmanischen Reiches eine Marillenfarm besitzen, besuchen hier in Mardin ihre beiden Söhne. Sie sind so um die zwanzig und tragen die Kampfanzüge der türkischen Armee. Noch müssen sie ein paar Monate des langen Wehrdienstes in dieser für sie fremden, um nicht zu sagen unfreundlichen Stadt abdienen. Kein Wunder, daß die Soldaten und ihre Eltern bedrückt wirken. "Auf Kurden, unsere Brüder, zu schießen, macht keinen Spaß", meint einer der Soldaten.

Ähnlich geht es wohl den hunderttausend Soldaten, die nicht nur im Grenzschutz gegen Syrien und den Irak, sondern vor allem als Besatzer gegen die seit eh und je aufrührerischen Kurden eingesetzt sind. Denn schon seit der Mitte der achtziger Jahre gleicht dieses Gebiet wegen der Guerilla-Aktionen der marxistisch orientierten "Kurdischen Arbeiterpartei" PKK einem riesigen Heerlager. Daß viele kurdische Rebellen in Syrien und im Libanon ausgebildet wurden, ist längst ein offenes Geheimnis.

Eines der Hauptzentren des kurdischen Widerstandes ist die "Schwarze Stadt" Diyarbakir, so genannt wegen der 5,5 Kilometer langen Stadtmauer aus Basalt. In dieser Stadt, in der schon 1926 ein Kurdenaufstand blutig niedergeschlagen wurde, werden wir von unserem türkischen Begleiter keine Minute lang aus den Augen gelassen. Man schirmt uns sofort ab, wenn Leute aus der Stadt ein Gespräch mit uns beginnen wollen. Was übrigens sehr gefährlich werden kann, wie schon mehrere Touristen infolge "unvorsichtiger" Bemerkungen erfahren mußten; sie landeten in einem der türkischen Gefängnisse, die bekanntlich nicht so komfortabel sind wie bei uns.

Ethnische Säuberung Dann gelingt es uns doch, den "Aufpasser" abzuschütteln. Und von einigen Kurden eine Bestätigung der permanenten Bürgerkriegssituation in Ostanatolien zu erhalten. Denn zur Bekämpfung kurdischer "Terroristen" gehören nicht nur massive Evakuierungs- und Umsiedlungsaktionen, sondern auch blutige "Strafexpeditionen". Das umstrittene und inzwischen aufgehobene Verbot des Gebrauches der kurdischen Sprache erinnert uns an die langen Jahre faschistischer Unterdrückungspolitik in Südtirol, zu der auch das Verbot des Deutsch-Unterrichtes gehörte. Was die Türken in den kurdischen Gebieten betreiben, ist eine Version der "ethnischen Säuberung", wie sie in vielen Teilen der Welt praktiziert wird. Die Kurden sind eben keine "Berg-Türken", als die sie von der Regierung in Ankara bezeichnet werden, sondern ein 25-Millionenvolk, das auch im Iran und Irak seit Jahrzehnten mit brutalsten Mitteln bekämpft wird. 6.000 zerstörte Dörfer und über 30.000 Tote sind die Bilanz dieses Völkermordes.

Auf verschneiten Straßen fahren wir weiter ostwärts. Sieben Monate lang liegt das karge Land unter einer weißen Schneedecke, vernichten Riesenlawinen die Bergdörfer, ohne daß unsere Medien darüber auch nur eine Zeile berichten. In den langen, klirrenden Nächten hört man das Heulen des Sturmes und der Wölfe. Kein Wunder, daß insbesonders die jungen Leute das unwirtliche Land verlassen, denn auch im letzten Dorf hat es sich herumgesprochen, daß man in der Westtürkei viermal soviel verdienen kann. 1927 lebten noch 75 Prozent der Türken am Land. Heute wohnen fast 80 Prozent aller Türken in Städten. Zuwanderer hausen zumeist in den Slum-Gürteln um die großen Städte, die täglich wachsen.

Im Nordosten der Türkei werden wir mit einem anderen ethnischen Problem konfrontiert. Das Museum der Stadt Van präsentiert nämlich nicht nur Ausgrabungsstücke aus der Urartäer-Herrschaft, sondern auch Bücher und Fotomontagen, die "armenische Massaker an den Türken" in Erinnerung halten sollen. Bisher hatten wir eine ganz andere Version dieser dramatischen Vorgänge, die sich während des Ersten Weltkriegs ereigneten, gehört. Armenier berichteten uns von Massenverhaftungen von Intellektuellen und Politikern, die im April 1915 stattfanden; auch von Massendeportationen armenischer Männer, Frauen und Kinder nach Syrien und Mesopotamien - Gebiete, die damals unter türkischer Herrschaft standen. Eine Million Armenier kamen bei diesem Todesmarsch und den nachfolgenden Massakern ums Leben.

Die Grenze zwischen der Türkei und der Republik Armenien, einst Bestandteil der Sowjetunion, ist nach wie vor dicht. Beim Besuch der alten armenischen Königsstadt Ani, die um die Mitte des 13. Jahrhunderts mehr als 100.000 Einwohner, 10.000 Häuser und 1.000 Kirchen zählte, stehen wir direkt vor den Wachtürmen der nahen Grenze. Von der glanzvollen Königsresidenz sind die Reste der gewaltigen Stadtmauer, einige armenische Kirchen (deren Fresken allerdings durch Verwitterung und Auskratzen moslemischer Fanatiker stark gelitten haben) und Wohnhöhlen von Mönchen geblieben. Außerdem das erste Minarett, das die Moslems auf dem Boden Anatoliens errichteten. Ansonsten liegt Grabesstille über der Königsstadt. Die Türken haben hier Spuren der Verwüstung und Vernichtung gezogen, genauso wie in den ehemaligen Wohngebieten der Griechen. Heute stehen die Armenier mit dem Rücken zur Wand im Ansturm des Islams. Die Gefahr, daß sie zwischen die Mühlsteine ihrer islamischen Gegner, Türkei und Aserbaidschan, geraten, ist eminent.

"Berg der Schmerzen" Obwohl in dieser Region die Gefahr der Geiselnahme durch kurdische Rebellen besteht, fahren wir weiter in das Dreiländereck Türkei, Armenien und Iran. Dort erhebt sich der Schicksalsberg der Armenier, der 5.137 Meter hohe Ararat. Die Türken nennen ihn Agri Dag, was mit der seit Jahrzehnten betriebenen Türkisierung von Namen und Ortsbezeichnungen zusammenhängt. Der "Berg der Schmerzen", wie der Ararat oft genannt wird, ist am 20. Juni 1840 zum letzten Mal ausgebrochen. Als noch Touristen herkamen, galt der kleine Ort Dogubayazit als Standquartier für die Besteigung des Berges. Heute treffen wir in dem modernen Hotel, das nur 40 Kilometer von der persischen Grenzstation entfernt liegt, iranische Fernlastfahrer. Sie verbringen die Nacht vorsichtshalber nicht auf der Straße, und sie wissen warum. Zwar sind die Sicherheitsverhältnisse dank der starken Präsenz von Militär und Polizei besser als in früheren Zeiten, doch kommt es, so die Fahrer, immer wieder zu Überfällen.

Ob die Güter, die sie durch die Türkei in den Iran transportieren, dort bleiben oder auf Umwegen in den Irak kommen, weiß niemand genau. Immerhin ist es erstaunlich, daß der Irak bisher die Sanktionen überstanden hat.

Da die Chancen der Türkei, in die EU aufgenommen zu werden, heute schlechter stehen als jemals zuvor, ist es nicht erstaunlich, daß man in Ankara den Blick immer mehr in den Osten richtet. Man erinnert sich daran, daß in den Republiken Zentralasiens Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Tadschikistan mehr als 60 Millionen Moslems leben, von denen mindestens zwei Drittel eine Variante der türkischen Sprache sprechen; sie gelten sowohl ethnisch wie kulturell als nahe Verwandte der Türkei.

Befreit von den Fesseln Moskaus, suchen diese Moslem-Republiken Kontakte mit der Türkei, die mit ihrem vorläufig noch gemäßigten Islam und der freien Marktwirtschaft vielen attraktiver erscheint als der fanatische, mittelalterliche Fundamentalismus der iranischen Mullahs, die allerdings in diesen Gebieten auch nicht untätig sind. Abgesehen davon sind die Moslems Zentralasiens Sunniten (wie die Türken); nur in Aserbaidschan dominieren die Schiiten wie im Iran.

Das Tempo der Annäherung zwischen der Türkei und den Turkvölkern der ehemaligen Sowjetunion ist enorm. Schon wird da und dort die von den Russen erzwungene kyrillische Schrift abgeschafft, kommen Hunderte von Studenten aus Zentralasien an die Universitäten der Türkei. Mit finanzieller Hilfe hofft die Türkei den iranischen Einfluß zu unterlaufen. Pan-türkische Kreise träumen bereits von einem türkischen Staatenbund, der vom Bosporus bis nach Zentralasien reichen soll. Allerdings beobachtet man in Zentralasien, wo größere und kleinere Nationalitätenkonflikte wie Pilze aus dem Boden schießen, ganz genau, wie die Türkei die Probleme im eigenen Haus löst. Was sich heute in Ostanatolien abspielt, alarmiert nicht nur den Westen, sondern könnte auch die Sympathien der islamischen Glaubensbrüder in Zentralasien dämpfen.

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