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Die „biblische“ Sowjetrepublik

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IN MOSKAU DREHTEN sich die Gäste im Restaurant nach unserem Tische um, wenn es da etwas laut — keineswegs übermäßig laut — zuging. In Erivan, der auf dem Breitengrad Calabriens und Sardiniens zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer liegenden Hauptstadt der Sowjetrepublik Armenien, hingegen vermochten wir Ausländer mit der Fröhlichkeit, ja Ausgelassenheit der Einheimischen kaum Schritt zu halten. Hier werden hübschen Frauen auf der Straße Kosenamen nachgerufen — einige Halbwüchsige rufen es sogar auf Französisch —, und „Amore in Armenia“ gäbe wohl auch einen recht heiteren Film. Im Hotel spielten sie — leider — einen „Cha-Cha-Cha“, und was die Eß- und Trinksitten in diesem Wein- und Kognakland anbelangt...

ETWAS VOM ÜBERRASCHENDSTEN einer Kreuz-und-quer-Fahrt durch die Sowjetunion ist das Erlebnis der Unterschiedlichkeit der einzelnen Teile dieses Riesenreiches: trotz einem halben Jahrhundert teilweise totalitärer und brutaler „Sowjeti-sierung“ hat ein Volk wie die Armenier — das Land zählt bloß etwa zwei Millionen Einwohner, wovon fast die Hälfte in der Hauptstadt Erivan lebt — seine Eigenart weitgehend erhalten können. Zwar ist, wie sich aus einem langen Gespräch mit dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets Armeniens ergab, die einer Sowjetrepublik gewährte Autonomie in keiner Weise vergleichbar etwa mit der eines Schweizer Kantons oder eines westdeutschen Landes, auch wenn man belehrt wird, laut Sowjetverfassung könne eine Republik jederzeit aus der Union der Sowjetrepubliken austreten, und der Ministerrat Armeniens führe das Land selbständig und verwalte die Finanzen selbst. Aber Moskau war doch immerhin so föderalistisch gesinnt, daß es den Armeniern erlaubte, ihre kulturelle Eigenständigkeit weitgehend zu wahren.

DIE ARMENIER HABEN EINE eigene Schrift, eine eigene Sprache, die vom Russischen total verschieden sind. In den Schulen wird der Unterricht armenisch erteilt, das Russische als Staatssprache gelehrt. Die Beschriftungen auf den Straßen sind armenisch, Zeitungen und Bücher werden armenisch gedruckt. Ja, dank russischen Ubersetzungen armenischer Literatur wird diese heute auch der Welt bekannt. Hinzu kommt, daß es dank der ungeheuren Anstrengungen der Sowjetunion auf dem Gebiete von Erziehung und Bildung in diesem halborientalischen Lande nicht nur längst keinen Analphabetismus mehr gibt, sondern heute ein Viertel der Bevölkerung eine höhere Schule — wozu man auch die Sekundärschulen und die technischen Schulen zählt — besucht hat. Armenien hat eine eigene Universität, ein Polytechnikum, eine höhere landwirtschaftliche Schule, ein Konservatorium und etwa achtzig wissenschaftliche Institute, darunter eine Akademie der Wissenschaften. (Es wäre verlockend, Vergleiche mit den nur wenige Kilometer entfernten Gebieten jenseits der türkischen und persischen Grenze anzustellen...)

NICHT MINDER WICHTIG ist etwas anderes: Armenien, als Durchgangsland vom Orient zum Okzident, in sedner Geschichte immer und immer wieder Zankapfel größerer Mächte, Kriegsschauplatz und Plünderungsobjekt gewesen. Zwei Jahre vor der russischen Oktoberrevolution kam es in Armenien noch zu einem persischen Massaker, das im Bewußtsein des Volkes noch sehr lebendig ist. Aber seit Armenien der Sowjetunion angehört, hat das Land außenpolitisch Ruhe — zum erstenmal in seiner etwa dreitausendjährigen Geschichte. „Erst dank der Sowjetunion sind wir eine Nation geworden“, erklärte uns der Vorsitzende des Obersten Sowjets. Und wenn man das auch nur mit großem Vorbehalt hinnehmen kann, Tatsache bleibt, daß in Armenien heute so etwas wie ein Nationalgefühl existiert, die Sowjetunion Gewaltiges zur Entwicklung des Landes getan hat — es bleibt noch immer genug zu tun, ein ansehnlicher Teil Erivanis zeigt noch immer etwas Kasbah- und sogar Bidonville-Charakter — und dem Lande, abgesehen vom Hitlerkrieg, der äußere Friede erhalten blieb. Und wenn kürzlich in einem Korrespondentenbericht des „Tages-An-zeigers“ aus Istanbul zu lesen war, jenseits der türkischen Grenze, in Ostanatolien, sei heute „jedes Städtchen ein Waffenplatz“ und es „wimmle von Militärs“, dann muß ich berichten, daß ich auf einer stundenlangen Autofahrt durch Armenien kaum einen Soldaten und nichts von Waffenplätzen gesehen habe.

ABER DIESES ARMENIEN beweist noch etwas: die fortwirkende Macht einer uralten Kulturtradition. Das Alter der Hauptstadt Erivan wird mit 2700 Jahren angegeben. Der über 5000 Meter hohe Berg Ararat, der das Land mit seiner weißen Kuppe majestätisch dominiert, wird schon im ersten Buch Moses als der Berg erwähnt, auf dem sich die Arche Noah nach der Sintflut niederließ. Erivan beherbergt den Matenadaran, die größte und wertvollste Manuskriptsammlung der Welt. Hier liegt in Form von etwa 10.000 Manuskripten ein gut Teil der Fundamente unserer abendländischen Kultur. Die Armenier sind eines der ältesten Kulturvölker der Welt, und zwar war es die Bibel, auf der diese Kultur aufbaute. Schon im 5. Jahrhundert n. Chr. entwickelte Armenien eine eigene Philosophie. Man kann im Matenadaran armenische Übersetzungen des Griechen Zenon sehen, die, da das griechische Original verschwunden ist, die einzige Quelle unseres Wissens von Zenon bilden. Aus dem 7. Jahrhundert liegt ein armenisches Manuskript über Arithmetik vor — das älteste der Welt. Auch ein Manuskript mit einer Übersetzung der Geometrie Euklids ist da, aus dem 12. Jahrhundert stammend und in seiner Art ebenfalls einzigartig. Im 10. Jahrhundert haben die Armenier eine eigene Dichtung entwickelt, und die Renaissance der Künste begann hier schon im 13. Jahrhundert...

ALL DAS WIRKT, FREILICH auf schwer faßbare Weise, auch heute noch nach. Die Intellektuellen und die Künstler Armeniens, denen wir begegneten, sind so unverkennbar geprägt durch diese Kulturtradition, daß man sich als Westeuropäer ihnen gegenüber recht bärenhaft vorkommt. Um das zu erleben, mußte man also über den Kaukasus fliegen in eine Sowjetrepublik. Es ist freilich so etwas wie eine „biblische“ Sowjetrepublik, und selbst das offizielle Besichtigungsprogramm sah einen Besuch der aus dem Jahre 303 stammenden Kirche von Etschmia-dzin, der Residenz des armenischen Katholikos und ihres wertvollen Kirchenschatzes vor. Als Cicerone wirkte ein junger Pope von fllm-starhaftem Aussehen. Wenn man hier einige Wochen leben könnte, würde man vielleicht mehr über die Geheimnisse der sowjetischen Wirklichkeit erfahren als in einigen Jahren eines Lebens in Moskau. Eines ist gewiß: Diese Wirklichkeit ist weit komplexer, vielgestaltiger, weit schwieriger auf einen Nenner zu bringen, als man sich das zu Hause im westlichen Fauteuil vorgestellt hat.

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