Erfroren im eigenen Bett

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Der harte armenische Winter bedeutet für viele alte Menschen das Todesurteil.

Fragen Sie auf der Straße jemanden "Wo liegt Armenien?" - Achselzucken ist eine wohl häufige Reaktion. Soviel vorweg: Armenien liegt im Südkaukasus und ist - trotz augenscheinlicher sozialer und wirtschaftlicher Probleme - eine Reise wert. Wer sich auf eine solche Reise ins "Land der Widersprüche" vorbereiten möchte, dem kann unter anderem der Film Voyage en Armenie - derzeit in manchen Kinos in Österreich zu sehen - empfohlen werden. Dem französischen Regisseur Robert Guédiguians ist mit seiner Reise nach Armenien eine besondere Liebeserklärung an das Land seiner Vorfahren gelungen. Der Film handelt von zwei Welten, die im Kaukasus aufeinander treffen, von den Widersprüchen, aber vor allem von der Tatsache, dass Armenien für viele Europäer ein weißer Fleck auf der Landkarte geblieben ist.

Der vergessene Genozid

Die Leistungen des armenischen Schriftstellers und Journalisten Hrant Dink, seine außergewöhnliche Persönlichkeit, aber vor allem sein Engagement für die Anerkennung der Rechte der armenischen Minderheit in der Türkei und sein konsequentes Engagement für eine Aufarbeitung des Völkermordes am armenischen Volk sorgten immer wieder für Notizen in der internationalen Presse. Seine Ermordung am 19. Jänner 2007 in Istanbul, er starb durch die Schüsse eines 17-jährigen Türken, könnte sich nun zu einer Lawine entwickeln, die den EU-Bestrebungen der Türkei zeitlich und grundsätzlich ganz und gar nicht ins Konzept passt.

Ermordet nach dem Gebet

Zu manchen Zeiten rächt sich bekanntlich die Geschichte. Hrant Dink suchte stets den Dialog mit dem türkischen Staat. Er erntete dafür letztlich kein Verständnis von türkischer Seite, sondern strafrechtliche Verfolgungen und vor allem eine Dämonisierung seiner Person. Diese Politik ist unter anderem der Nährboden für radikale Gruppierungen und die Verblendung junger Menschen durch nationalistische Ideen. "Ich habe mein Freitagsgebet verrichtet und danach den Armenier erschossen, weil er das Türkentum angriff." - So lautete laut das medial verbreitete Geständnis des Dink-Mörders nach seiner ersten Einvernahme durch die Polizei. Der Hintergrund dieser Tat ist letztlich der bis heute nicht aufgearbeitete bzw. vor allem in der Türkei systematisch verdrängte und verleugnete Völkermord am armenischen Volk. Bis zu 1,5 Millionen Armenier des Osmanischen Reiches verloren 1915 auf grausame Weise ihr Leben. Den Befehl zur systematischen Ermordung erteilte Talaat Bey, der damalige Innenminister des türkisch-osmanischen Reiches.

Das Beben und die Folgen

Ein zweites Datum hat sich tief in die Erinnerung des armenischen Volkes eingegraben. Am 7. Dezember 1988 erschütterten Erdstöße der Stärke 6,8 auf der Richterskala den Norden Armeniens. 25.000 Menschen starben unter den Trümmern ihrer Häuser und Wohnungen. Die Städte Gjumri und Vanadzor - zwei aktuelle Schwerpunktgebiete der Hilfsprogramme der Caritas - wurden weit gehend zerstört. Vom Erdbeben und den entsprechenden Nachwirkungen hat sich das kleine Gebirgsland - 90 Prozent der Landesfläche liegen mehr als 1000 Meter über dem Meeresspiegel - bis heute nicht erholt. Halb eingestürzte Häuser gehören in weiten Teilen des Landes zum Straßenbild. Der Wiederaufbau wurde zunächst mit sowjetischer Hilfe begonnen. Nach der am 21. September 1991 erfolgten Unabhängigkeitserklärung und der Gründung der Republik Armenien wurden die sowjetischen Bautätigkeiten eingestellt. Zehntausende Armenier leben bis heute in behelfsmäßigen Behausungen.

"Hier bin ich nichts wert!"

Mitte der 1990er Jahre begann der Krieg um die Enklave Berg Karabach. Die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region gehört zu Aserbaidschan. Die kriegerischen Auseinandersetzungen trieben 280.000 Armenier in die Flucht. Viele von ihnen leben heute in dramatischer Armut. Sie wurden aus Aserbaidschan vertrieben und von Armenien im Stich gelassen. Die finanziellen Ressourcen für eine entsprechende Flüchtlingshilfe fehlen an allen Ecken und Enden. "Mit gelegentlichen Putzarbeiten versuche ich, meine Kinder zumindest vor dem Tod durch Hunger und Kälte zu bewahren. In Aserbaidschan hatte ich ein Haus und eine gute Arbeit. Hier bin ich nichts wert und ich finde keine Arbeit", berichtet Angela. Die Mutter von drei Kindern lebt in Amasia, einer Stadt nahe der türkischen Grenze. "Diese Gegend ist im Winter besonders von Kälte betroffen", berichtet eine Caritas-Mitarbeiterin. Und sie bestätigt damit die Temperaturanzeige unseres Autos. Minus 18 Grad - und dieser Wert könne sich im Laufe der Wintermonate durchaus verdoppeln, lautet die Auskunft unserer Begleiterin.

Der Wohnraum von Tigran, Tagouhi und Jema - die drei Kinder von Angela - bietet wenig Behaglichkeit. Die Fenster sind behelfsmäßig mit Plastikfolien verklebt und die Kinder schlafen, essen und spielen in einem großen Bett. Das ist übrigens das einzige Möbelstück - falls dieser Begriff hier zutreffende Verwendung findet -, das wir in der Wohnung erkennen konnten.

Die Caritas hat in Amasia und in den umliegenden Dörfern Gemeinschaftszentren aufgebaut. Über diese Zentren werden Ausbildungskurse organisiert und es wurde ein System der freiwilligen Hilfe aufgebaut. "Mit hauptamtlichen Mitarbeitern könnten wir die enormen Probleme nicht einmal antippen. Hunderte Freiwillige organisieren Hilfsmaßnahmen direkt in den Familien", erzählt Anahit Gevorgyan. Sie ist für die Caritas-Flüchtlingshilfe in Amasia verantwortlich. In wenigen Wochen wird sie ihr erstes Kind zur Welt bringen, aber noch gelte es, die Arbeit voranzutreiben.

Ohne Hilfe keine Chance

Die stundenlange Fahrt auf den Straßen dieser Region - in Tirol ist jeder Almweg im Vergleich dazu eine Autobahn - ließ die hochschwangere Frau und das mitreisende Caritas-Team immer wieder bedrohlich erblassen. Dramatisch gestalteten sich auch die Besuche im Rahmen der Caritas-Altenhilfeprogramme. "Alte Menschen mit Pensionen in der Höhe von zehn Euro pro Monat haben ohne Hilfe von außen keine Chance. Immer wieder kommt es vor, dass wir bei unseren Touren durch die halb zerfallenen Häuser und Container alte Menschen erfroren in ihren Betten vorfinden", berichtet der armenische Caritasdirektor Gagik Tarasyan. Deswegen ist es hoch an der Zeit, dass Armenien ein neues Partnerland der Caritas Österreich geworden ist. Dabei werden die unterschiedlichen Hilfsprogramme von der Caritas Tirol koordiniert.

Der Autor ist Pressesprecher der Tiroler Caritas und freier Journalist.

Gegen das Vergessen

Mit einer österreichweiten Spendenkampagene unter dem Motto "Vergessen" bittet die Caritas Österreich den Februar hindurch um Spenden für dringende Hilfsprojekte in Osteuropa, im Kosovo und in Armenien.

Spendenkonto: PSK, BLZ 60000, Kontonummer 770004.

Kennwort "Osteuropa".

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