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Sehnsucht nach Atatürk

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Auf Einladung der türkischen Regierung und des ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel,

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Auf Einladung der türkischen Regierung und des ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel,

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Demetrios I., unternimmt Papst Johannes Paul II. vom 28. bis 30. November eine Reise in die Türkei, die ihn nach Ankara, Istanbul und Ephesus führen wird. Der Heilige Vater besucht damit ein Land, das derzeit in einer schweren Krise steckt. Die wirtschaftliche und soziale Situation der Türkei beleuchtet unser Korrespondent Heinz Gstrein.

Die Türken haben den Todestag ihres nationalen Erneuerers Kemal Atatürk vom November 1938 vielleicht noch nie so ernst und nostalgisch wie diesmal begangen: mit ihren roten Halbmondfahnen auf Halbmast, ohne Alkohol und Bauchtanz, mit

Trauermärschen im Radio, Arbeits- und Schweigepausen in allen Betrieben.

Und bei vielen, denen sogar die Tränen in den Augen standen, war daran nicht der beißende Braunkohlenqualm Schuld, der

Ankara und Istanbul seit Beginn der Heizperiode fast erstickt.

Die Türken von heute haben viele Gründe, ihrem modernen Gründer nachzuweinen. Das Land ohne öl und fast ohne

Deviseneinkünfte, wenn man vom Fremdenverkehr absieht, wurde von der Energiekrise darum besonders hart getroffen. Treibstoff ist so knapp geworden, daß sogar der Busverkehr zu den internationalen Flughäfen unter Benzinpannen leidet.

In Istanbul, Izmir, Ankara und den anderen Großstädten wird der Strom täglich kreisweise für mehrere Stunden ausgeschaltet.

Noch glücklich, wer da genau an der Grenze von zwei Bezirken wohnt und mit der Beleuchtung hier, mit dem Telefon dort gleichzeitig mitnaschen darf. Das fast schon ausgestorbene Köhlergewerbe, dessen letzte rußverschmierte Vertreter nur noch im hintersten

Anatolien zu finden waren, steht wieder hoch in Blüte, die Meiler türmen sich bis in die Vorstädte hinein.

Und bei den Luxushütten der Reichen im Marmara-Meer streifen noble Spaziergänger am Sonntag Nachmittag nicht mehr müßig durch die duftenden Föhrenwälder von Burgaz, Heybeli und Büyükada. Aus den Blumenpflückem sind Holz sammler geworden, die Zweige und Rindenstücke in den Kinderwagen zu ihren Chalets karren.

Wenn es Nacht wird in Beyoglou und am Takschim, flammen selbst in der eleganten Ištikai Caddesi kaum noch Lichter auf. Im

Nebel und Kohlenrauch braucht man fast wieder die Nachtlaternen aus alten Sultanszeiten, um sich einigermaßen zurechtzufinden.

Dennoch ist das türkische Nachtleben hektischer denn je. Oberschicht, europäisierte Minderheiten und Ausländer lassen sich im

Ker- vąnseral oder bei Yeni Rita vorzaubern und vortanzen, tanzen aber selbst auf dem Vulkan Türkei, dessen seit Jahren ungelöste

Probleme jeden Moment losbrechen können.

Die Inflation beträgt nach ausländischen Berechnungen 100 Prozent, selbst nach türkischen Angaben immerhin 90. Während der Lebensmittelbedarf nur noch mit Mühe gedeckt werden kann, steigt die Produktion von Zigaretten und alkoholischen Getränken sprunghaft an.

Doch schlimmer als der Weingeist lind die Riki-Räusche sind die vom politischen Extremismus berauschten Geister, die in dieser

Notzeit einen radikalen Ausweg für die türkische Misere mit Gewalt und Anarchie erzwingen wollen. Vom 4. bis 10. November allein sind 48 Terroranschläge mit noch viel mehr Opfern verübt worden. Die Saat der Gewalt ist praktisch in allen Bevölkerungsschichten aufgegangen und kein Türke kann heute mehr vor einer Kugel sicher sein.

Nicht so die Reste religiöser und sprachlicher Minderheiten, die dank der innertürkischen Auseinandersetzung unverhofft Atem holen können: Juden, Griechen und auch Armenier - sofern diese nicht Rückwirkungen des antitürkischen Auslandsterrors ihrer

Volksgenossen hier reziprok zu spüren bekommen. Und Kurden wie syrische Christen sind von den Wildwestzuständen im Osten der

Türkei mehr in Mitleidenschaft gezogen als von gezielten Maßnahmen der Obrigkeit.

Die Türken aber zerfleischen sich untereinander. Im kleinen Cekerek zum Beispiel schießt der linke Lehrer Senol den rechten

Lehrer Erdogan nieder und wird daraufhin mit zwei weiteren Linken von einer Gruppe Rechter umgebracht. Neben den vier Toten sind noch sechs Schwerverletzte die Bilanz des Zwischenfalls.

Kein Wunder, daß in dieser Situation der nationalen Spaltung in links und rechts das große Heimweh nach der Vaterfigur eines

Atatürk übermächtig geworden ist, an jenen Reformer, um den sich seinerzeit alle Türken wie ein Mann geschart hatten …

(Ein weiterer Bericht folgt.)

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