Viel wurde getan, noch mehr bleibt zu tun

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Aus heutiger Sicht scheint ein EU-Beitritt der Türkei in weiter Ferne. Die Verhandlungen sind aber jedenfalls eine Chance - auch für die Union.

Islam und Kemalismus haben die Türkei wesentlich geprägt. Ein Rückblick auf über achtzig Jahre Republik Türkei zeigt, dass sich das Land allen Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten zum Trotz nicht nur als lebensfähig erwiesen hat, sondern auch als relativ stabil. Atatürks Leistung lag nicht nur in der Schaffung eines souveränen Staats nach dem Zerfall des osmanischen Reiches, sondern auch in der Herausbildung eines gewissen Zusammengehörigkeitsgefühls der innerhalb der türkischen Staatsgrenzen lebenden Völker, wenngleich dieses vor allem seit den neunziger Jahren von manchen Gesellschaftsteilen immer wieder in Frage gestellt wird.

Aufweichung des Laizismus

Atatürk verbannte mit Entstehung der Republik 1923 die Religion aus dem Staatsgefüge und schuf somit nach westlichem Vorbild einen laizistischen Staat. Die Restbestände der islamisch-osmanischen Rechtsordnung wurden beseitigt und das Bildungssystem angepasst. Obwohl die mächtige Staatsgewalt mit Unterstützung des Militärs diese strenge Trennung über Jahrzehnte überwachte, gelang es nie, den Islam vollständig aus der kollektiven Identität der Bevölkerung zu verdrängen.

Die klare laizistische Ordnung des Kemalismus ist in den letzten Jahren aufgeweicht worden. Man erkennt durch die islamisch geprägte Regierungspartei eine Liberalisierung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen hinsichtlich der Zulassung religiös motivierter Politik. Diese Änderung der politischen Haltung ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, die sich heute in vielen Facetten und differenzierter zeigt, als dies Atatürk in seinem Vorhaben, eine einheitliche türkische Identität zu schaffen, geplant hatte.

Der Modernismus, ein weiteres kemalistisches Prinzip, betont die Entwicklung von Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und des politischen Systems nach europäischem Muster. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts entschied man sich mit der Staatsform der Republik gegen das monarchische System mit einem Sultan an der Spitze. Durch die Einführung der Demokratie - anfänglich als Einparteiensystem, das später durch ein Mehrparteiensystem ersetzt wurde - band man mehr und mehr das Volk in die politische Entscheidungsfindung ein. Damit hat die Türkei einen ganz anderen, einen europäischeren politischen Weg eingeschlagen, als die benachbarten arabischen und die persischen muslimischen Völker.

Gespaltene Identität

Das Selbstverständnis der Türken insgesamt ist gespalten und ein Zeichen der starken gesellschaftlichen und sozialen Unterschiede im Land. Die Eliten der türkischen Wirtschaft und der Universitäten sehen sich nicht nur europäisch geprägt, sondern aufgrund der Veränderungen in der Türkei während des 20. Jahrhunderts als Europäer und streben eine weitere "Verwestlichung" an, was durch die Beitritte zu uno, Europarat und nato manifestiert wurde. Geht man weiter in Richtung Osten, so sinkt nicht nur der Wohlstand, es ändert sich auch die Eigendefinition. Die ländlich strukturierte Gesellschaft und die Bevölkerung in Anatolien sind bis heute islamisch geprägt und liegen nicht nur geografisch in der religiös-politischen Einflusssphäre der persischen und arabischen Nachbarn.

Spagat der Politik

Die Politik steht dazwischen, denn die breiten Massen der Wähler sind in Anatolien beheimatet. Diese konnten nicht zuletzt dadurch gewonnen werden, dass die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (akp) als konservative, religiöse Partei angetreten ist. Die Geldgeber im industrialisierten und reichen Westen des Landes sind pro-europäisch und an einer intensiven Anbindung an den Westen interessiert. Sie unterstützen die (Außen-)Politik auf dem Weg einer weiteren Europäisierung. Innenpolitisch macht sich jedoch das islamische Element im Vielvölkerstaat immer stärker bemerkbar, wenngleich der türkische Islam nicht mit den missionarischen und teilweise radikalen Formen des persischen und arabischen Raums verglichen werden kann.

Trotz zunehmender Islamisierung großer Teile der türkischen Gesellschaft, die unter anderem auch das Resultat einer permanenten Unterdrückung religiöser Lebensweisen in den vergangenen Jahrzehnten ist, entwickelt sich das Land als modernes, pluralistisches System mit einer wachsenden Volkswirtschaft. Vieles von dem, was die eu gefordert hatte, um Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, wurde erfüllt, noch mehr bleibt allerdings bis zu einem möglichen Beitritt zu tun. Es ist anzuerkennen, dass viele Gesetze seit 2002 reformiert, erneuert oder auch außer Kraft gesetzt wurden. Unter anderem wurde die Macht des Militärs erheblich eingeschränkt, die Todesstrafe abgeschafft, Folter verboten, Minderheitenschutz zugesagt und die Gleichberechtigung der Geschlechter verbessert. Die gesetzliche Verankerung ist aber nur ein erster Schritt. Weitaus schwieriger ist die Umsetzung all dieser Reformen, da es der Internalisierung der neuen Regelungen bei den Exekutivorganen und auch bei der Bevölkerung bedarf, was bislang nicht absehbar ist.

Abgesehen von der Umsetzung dieser ersten Reformen müssen im Laufe der Verhandlungen drei große Fragenkomplexe diskutiert werden:

Nachbarn Irak, Iran, Syrien

* Der Umgang mit den speziellen Charakteristika der Türkei, das heißt mit ihrer Größe, der geografischen Lage und ihrer Geschichte.

* Art und Umfang der Veränderungen der Türkei in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren, um Mitglied der eu zu werden.

* Veränderungen der eu, um diese Erweiterung verkraften zu können.

Die besonderen Charakteristika der Türkei spielen einerseits in allen geostrategischen und sicherheitspolitischen Fragen eine große Rolle, da die eu plötzlich Nachbarstaaten wie den Irak, den Iran oder Syrien hätte. Andererseits hätten sie Auswirkungen auf das Gleichgewicht innerhalb der Institutionen und würden eine starke Verschiebung der Stimmgewichtungen mit sich bringen.

Die Veränderungen, die die Türkei durchzuführen hat, betreffen die Kopenhagener Kriterien, die vom jeweiligen Kandidatenland erfüllt werden müssen: Es sind hier weitere politische Verbesserungen nötig, um Demokratie und Rechtstaatlichkeit noch tiefer zu verankern. Daneben müssen wirtschaftliche Reformen durchgeführt und umgesetzt werden, um marktwirtschaftliche Strukturen zu etablieren, die auch dem europäischen Wettbewerb standhalten können. Schließlich muss garantiert sein, dass die Türkei das Gemeinschaftsrecht in ihr nationales Recht einarbeiten und auch anwenden kann. Angesichts dieser Anforderungen scheint der Beitritt aus heutiger Sicht in weiter Ferne.

Bewährungsprobe für EU

Auch für die Europäische Union wird es notwendig sein, verschiedene Anpassungen in ihrer Gestaltung vorzunehmen. Um die Türkei wirklich verkraften zu können, bräuchte die eu eine Verfassung, eine Regierung und eine wesentlich besser koordinierte Außen- und Sicherheitspolitik, wahrscheinlich inklusive einer Armee. Damit der Beitritt eines so großen Landes bewältigt werden kann, ist wesentlich mehr Einheit gefordert, als die eu heute zeigt. Solch tief greifende Änderungen interner Strukturen bedürfen wiederum einer erheblich verbesserten Kommunikationspolitik, vor allem der nationalen Politik, mit den Bürgern, um deren Zustimmung zu erlangen.

Die Verhandlungen mit der Türkei bieten der eu die Chance, sich endlich, wirklich ernsthaft und tief greifend mit der eigenen Situation und den eigenen Strukturen auseinander zu setzen. Nach den Ergebnissen der Referenden in Frankreich und den Niederlanden wird dieser Schritt mit oder ohne Türkei dringend nötig sein.

Der Autor ist Türkei-Experte und Mitarbeiter von eu-Parlamentarier Othmar Karas (vp).

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