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NATO-Flüchtling?

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In Ankara hat die aus der sozialdemokratisch orientierten „Republikanischen Volkspartei“ und der rechtsgerichteten „Islamischen Heilspartei“ bestehende Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Bü-lent Ecevit ihre Arbeit aufgenommen, nachdem eine Mehrheit von 235 Abgeordneten der Volkskammer der türkischen Nationalversammlung ihr auf weitgehende innerpolitische Reformen und eine außenpolitische Neuorientierung gerichtetes Programm gebilligt hatte. Westliche diplomatische Kreise in der anatolischen Hauptstadt fragen sich nun besorgt, ob das Kabinett Ecevit das Bosporusland zu einer islamischen Volksdemokratie umgestalten und das NATO-Bündnis verlassen will.

Soweit sich bis jetzt erkennen läßt, will Premierminister Ecevit aus der am Bosporus weitverbreiteten Mißstimmung über die geringen bisherigen Vorteile der EG-Assoziierung Kapital schlagen, indem er die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Brüsseler Neunergemeinschaft aufs Eis legt und die außenwirtschaftlichen Interessen stärker auf die arabischen Hinterländer des ehemaligen osmanischen Reiches lenkt. Hierbei trifft er auf die Zustimmung der noch unterentwickelten Industrie, deren Erzeugnisse sich aus qualitativen Gründen nur schwer in Europa absetzen lassen, in der arabischen Welt aber ausgedehnte Märkte finden könnten. Damit verbunden sein soll allerdings auch eine politische Hinwendung zu den Arabern. Ecevit scheint fünfzig Jahre nach dem Zerfall des Osmanischen Imperiums eine Erneuerung der regionalen Großmachtrolle der Türkei im Vorderen Orient vorzuschweben. Dieses Ziel dürfte sich nicht nur nachteilig auf die bislang freundlichen Beziehungen zu Israel, sondern auch auf die Rolle des Bosporuslandes in der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft auswirken. Zwar scheint die neue Regierung zunächst keine Änderung der bisher nur korrektnachbarlichen Beziehungen zur Sowjetunion und anderen Ostblockstaaten anzustreben, doch die Pläne zur Neuordnung der allgemeinen Wehrpflicht und zur Verringerung der Mannschaftsstärke der Streitkräfte müssen rasch dazu führen, daß die gegenwärtig die zweitstärkste NATO-Streitmacht stellende Türkei ihren Bündnisverpflichtungen nicht mehr voll nachkommen kann. In diesem Zusammenhang interessant ist auch die im Koalitionsvertrag festgelegte endgültige Übernahme der amerikanischen Luftwaffenbasis von Adana in nationale Verwaltung.

Die Abwendung von NATO und EG und die angestrebte Zusammenarbeit mit den arabischen Nachbarstaaten erfüllen die religiös-nationalistischen Zielvorstellungen der extrem konservativen „Islamischen Heilspartei“ und sollen gleichzeitig den übermächtigen innerpolitischen Einfluß der Streitkräfte zurückdrängen. Die Armee selbst verhält sich abwartend, doch es ist fraglich, ob der Generalstab eine Verkleinerung der Streitkräfte wirklich hinnehmen wird.

Mit einigem Mißtrauen beobachtet man in Armeekreisen außerdem den Versuch der neuen Regierung, die Folgen der unter dem rund zweieinhalbjährigen Militärregime ausgeübten Straf Justiz gegen links- und rechtsradikale Umstürzler zu beseitigen. Die Regierung Ecevit will den Großteil der etwa achtzigtausend Insassen türkischer Strafanstalten, bis auf einige Gewaltkrkninelle, amnestieren. Die Amnestie soll nicht nur einigen tausend politischen Häftlingen, sondern auch normalen Straftätern zugute kommen.

Zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen dürfte es über die sehr weitgehenden Bodenreformpläne der Regierung kommen, durch die der politische Machtanspruch der landbesitzenden „Agas“ gebrochen werden soll. Das Kabinett will außerdem die Macht des Auslandskapitals einschränken. Die Einführung von Kontroll- und Sequestrierungsmaßnahmen gegen ausländisches Investitionskapital, durch die westliche Investoren abgeschreckt werden, widerspricht aber den hochfliegenden Industrialisierungsplänen Premierminister Ecevits, die ohne ausländisches Kapital kaum zu realisieren sind. In Ankara hofft man anscheinend, die auf diese Weise entstehenden Finanzierungslücken durch arabisches Kapital schließen zu können.

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