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Der religiöse Technokrat

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In Ankara versucht Staatspräsident Fachri Korutürk gegenwärtig, nach zweieinhalb jähriger Militärherrschaft und den ruhigsten Parlamentsneuwahlen in der fünfzigjährigen Geschichte der modernen Türkei, eine große Koalition zwischen der Mehrheitsfraktion der sozialdemokratisch orientierten „Republikanischen Volkspartei“ Bülent Ecevits und der Minderheitsfraktion der konservativ-liberalen „Gerechtigkeitspartei“ des früheren Premierministers Suleiman Demirel zustande zu bringen. Eine solche Lösung der durch das unklare Wahlergebnis verursachten Regierungskrise würde auch die Generalität im Interesse der innerpolitischen Stabilität begrüßen. Sowohl Ecevit als auch Demirel waren bei dem Versuch, Koalitionsregierungen links oder rechts von der Mitte zu bilden, an der Sperrminorität der „Islamischen Heilspartei“ des Professors Necmettin Erbakan gescheitert. Ecevit erklärte zwar bereits mehrfach seine Bereitschaft zur Bildung einer Minderheitsregierung, doch Präsident und Armee befürchteten von ihr eine vierjährige innerpolitische Dauerkrise. Kommt es nicht zu einem Kompromiß zwischen Ecevit und Demirel, zwischen denen weniger politische Meinungsverschiedenheiten als vielmehr tiefgehende persönliche Aversionen stehen, wären Neuwahlen der einzige verfassungsmäßige Ausweg. In ihnen aber wäre ein weiterer Zuwachs des „Extremisten“ Erbakan zu befürchten, was mit Sicherheit die um den Fortbestand der laizistischen kema-listisohen Türkei besorgten Militärs erneut auf den Plan rufen müßte.

Die geschilderte Lage zeigt deutlich die Schlüsselrolle, die der 48 (von 450) Abgeordneten starken Fraktion der „Islamischen Heilspartei“ in der gegenwärtigen innerpolitischen Entwicklung des Bosporuslandes zukommt. Die Partei, die ironischerweise für die analphabetischen anatolischen Wähler einen Schlüssel als Symbol auf den Stimmzetteln führte, ist gerade erst ein Jahr alt. Die Kemalisten und man-

che ausländische Beobachter sehen in ihr den „finstersten Auswurf der islamischen Reaktion“, eine akute Bedrohung der ikemalistischen Staatsidee und einen Ausbund des religiöskonservativen Extremismus.

Erbakan stammt aus einer angesehenen Istanbuler Bürgerfamilie mit durchaus kemalistischem Hintergrund. Als Schüler war er stets einer der fleißigsten seiner Klasse, und als Student an der Technischen Hochschule der Stadt am Goldenen Horn, an der er 1951 promovierte, erwarb er viele akademische Lorbeeren. An der Technischen Hochschule Aachen erwarb der begabte Wissenschaftler einen zweiten Doktorhut und arbeitete als Experte für die Entwicklung von Verbrennungsmotoren für ein deutsches Unternehmen.

Der große Wahlsieg des Sozialdemokraten Ecevit in der Türkei war für die meisten politischen Beobachter eine völlige Überraschung. Heute meinen viele, die Schlüsselrolle Erbakans sei nur die andere Seite der gleichen Münze. Sicher ist jedenfalls, daß eine Regierungsbildung ohne oder sogar gegen ihn nicht möglich ist.

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