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Krankes Taumeln

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Die Türkei taumelt von einer innenpolitischen Krise in die andere. Kaum ist der Versuch des progressiven Flügels der von Kemal Atatürk und dem langjährigen Staats- und Regierungschef Ismet Inönü gegründeten „Republikanischen Volkspartei“ unter ihrem derzeitigen Parteichef Bülent Ecevit gescheitert, durch den Rückzug der fünf RVP-Minister.,aus dem Kabinett des Ministerpräsidenten Ferit Melen den Sturz d« ausschließlich vom Ver-. trauen des Generalstabes getragenen nebenparlamentarischen Regierung herbeizuführen, da provoziert der Ubertritt von drei Abgeordneten der „Volkskammer“ zur Gerechtigkeitspartei des letzten legalen parlamentarischen Premierministers SuLeiman Demirel eine neue Staatskrise. Die fünf RVP-Kabinettsmitglieder hatten sich, nach längeren Verhandlungen mit ihrer Parteiführung und den Militärs und nach dem Austritt Ismet Inönü Paschas aus seiner Partei, zum Verbleiben in der Regierung entschlossen. Dadurch konnte die unvermeidlich scheinende offene

Machtergreifung der Militärführung noch einmal abgewendet werden. Der jetzt endgültig gewordene Ubertritt dreier verhältnismäßig unbedeutender Deputierter schafft jedoch wesentlich ernstere Probleme. In dem Bosporusland stehen für den Herbst des kommenden Jahres Parlamentsneuwahlen bevor. Und pbwohL die Regierung des Ministerpräsidenten Demirel von der konservativen „Gerechtigkeitspartei“ von nahezu allen in- und ausländischen Beobachtern für die politische und wirtschaftliche Krisenlage und das zeitweilige unkontrollierte Anwachsen des jugendlichen Anarchismus verantwortlich gemacht wird, rechnen sowohl diplomatische Kreise als auch die seit etwa eineinhalb Jahren tonangebenden Militärs mit einem überwältigenden Wahlsieg eben dieser Partei. Die Armee hat bereits angekündigt, daß sie sich zwar nicht gegen das termingerechte Stattfinden der Wahlen sträuben, aber eine Rückkehr der Machtstellung Demireis und seiner Partei niemals kampflos hinnehmen werde.

Bis vor vierzehn Tagen hielten es fortschrittliche politische Kreise und die Offiziere im Generastabshauptquartier noch nicht für ganz ausgeschlossen, daß die Konservativen durch erhebliche Stimmengewinne der sich zur Sozialdemokratie hin entwickelnden „Republikanischen Volkspartei“ neutralisieren ließen. Die Kraftprobe zwischen dem Sozialdemokraten Ecevit, der seine Delegierten in der Regierung schon jetzt zu einer außerparlamentarischen Kraftprobe herausfordern wollte, und dem eher bürgerlichen Inönü, der das Erbe seines Mentors Atatürk gefährdet sieht und zudem an fortschreitender Altersschwäche leidet, unterstrich jedoch die Erfolgschancen der Volksrepublikaner.

Der Übertritt dreier um ihr künftiges Abgeordnetenmandat und die damit verbundenen fetten Pfründen besorgter Parlamentarier zur „Gerechtigkeitspartei“ bringt den Zeitplan der Regierung und der Militärs noch mehr durcheinander. Demirel, der Expremier im Schmollwinkel, hat schon jetzt, was er nach den nächsten Neuwahlen bestimmt bekommen hätte: die absolute Mehrheit in der Volkskammer. Und er ließ auch schon wissen, wie er sie zu nutzen gedenkt. Er hat — ungeachtet der wie ein Damoklesschwert über ihm schwebenden Korruptionsvorwürfe wegen einseitiger Begünstigung seiner Familienmitglieder bei Staatsaufträgen während seiner Amtszeit — der nunmehr in die Minderheit gedrängten Regierung Melen den Kampf bis aufs Messer angesagt. Damit rückt die Verschiebung der Neuwahlen und die direkte Machtergreifung der Militärs im südlichsten NATO-Land erneut näher. Doch: „Die Türkei lebt nicht mit“, tröstet sich ein Ankaraer Deputierter, „sondern von der permanenten Krise.“

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