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Opfer demokratischer Skrupel

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In Ankara zieht man aus der durch Staatspräsident Cevdet Sunay erfolgten Ernennung des bisherigen Verteidigungsministers Ferit Melen zum geschäftsführenden Premierminister erste Schlüsse auf den mutmaßlichen Kurs der innerpolitischen Entwicklung der nächsten Zeit. Die Berufung ausgerechnet des Ressortchefs für Verteidigung soll zweifellos eine Warnung an die Adresse der noch immer vor der Erteilung von Sondervollmachen für die Regierung zurückschreckenden Parlamentsmitglieder sein. Präsident Sunay und Generalstabschef Mem-duh Tagmac wünschen zwar auch jetzt noch eine zivile Regierung, sollte sich jedoch kein Regierungschef für sie finden oder ihr das Parlament weiterhin die verlangten Ermächtigungen für den Erlaß von Gesetzen auf dem Verordnungsweg, verweigern, hält man in der türkischen Hauptatadt eine mindestens befristete, Machtübernahme durch die Streitkräfte für unausweichlich.

Aus der Persönlichkeit des Interimspremiers ziehen politische Beobachter am Bosporus noch weitergehende Schlüsse. Melen ist Mitglied der unbedeutenden „Vertrauensparpartei“. Diese Gruppe spaltete sich 1967 von der „Republikanischen Volkspartei“ Ismet Inönüs mit der Begründung ab, diese habe sich zu weit links vom Zentrum entwickelt. Sie verfügt in der Volkskammer lediglich über 13 von 450 und im Senat nur über 10 von 183 Sitzen. Melen und seine politischen Freunde treten ein für die „politische Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit, den Vorrang der nationalen Erziehung und die Sicherung des Privateigentums und der privaten Investitionen“, wie es im offiziellen Parteiprogramm heißt. Die Partei steht der bürgerlich-konservativen „Gerechtigkeitspartei“ Suleiman Demireis, die in den letzten zwölf Jahren alle ökonomischen und sozialen Reformen blockierte und schuld hat an der katastrophalen Krisenlage der türkischen Demokratie, wesentlich näher als der fortschrittlicheren „Volkspartei“. Aus diesem Grund sieht man in politischen Kreisen Ankaras in der Berufung Melens eher einen Rückschritt und Anzeichen für eine Kapitulation der reformwilligen Militärs vor dem eben diesen Reformen ungünstigen politischen Klima in der „Großen Nationalversammlung“.

Keine Träne für Erim

In Armeekreisen weist man diese Befürchtung allerdings entschieden zurück. Man argumentiert, das Land brauche jetzt eine neue Regierung, die zwar das Vertrauen der Generalität genieße und reformwilliger sei als das Kabinett Erim. Diese Regierung müsse aber, wenn man das parlamentarische System bewahren wolle, über genügend Rückhalt in beiden Kammern der Volksvertretung verfügen. Der Generalstab scheint die Durchsetzungsfähigkeil der von Spaltung auf der Linken wie auf der Rechten bedrohten Partei Inönüs nicht sehr hoch einzuschätzen. Im Präsidentenpalais im Ankaraer Regierungsviertel Cahkaya gibt es vier aussichtsreiche Kandidaten für die Nachfolge von Professor Erim. Der ehemalige Admiral Korur-türk und der Staatssekretär der Präsidialkanzlei, Alpan, genießen wegen ihrer guten Beziehungen zum Generalstab das besondere Vertrauen Sunays. Fraglich ist jedoch, ob sie eine Parlamentsmehrheit für eine von ihnen gebildete Regierung zustande bringen können. Größere Chancen gibt man dem früheren Bonn-Botschafter und ehemaligen Ministerpräsidenten Ürgüplü sowie, was die naheliegendste Lösung wäre, Parlamentspräsident Avci. Eine Entscheidung steht jedoch noch aus. Präsident Sunay konferierte bereits unter Anwesenheit von Generalstabschef Tagmac mit allen vier Kandidaten.

Professor Erim weint man in Ankara keine Träne nach. In politischen Kreisen heißt es, er sei das Opfer seiner demokratischen Skrupel geworden. Er habe weder die wirtschaftliche noch die soziale Lage des Landes gebessert, sondern es sei in seiner Amtszeit nur weiteres Blut vergossen worden. Er habe es nicht verstanden, den Parlamentariern klarzumachen, daß die Iangriffnahme umfassender Reformen in ihrem eigenen Interesse liege. Er habe alles mögliche versucht, aber nichts Emstliches unternommen.

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