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Die Koalitionssuppe brodelt

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Die innenpolitische Situation der Türkei ist derzeit durch eine Atmosphäre der Animosität zwischen den Regierungsparteien gekennzeichnet, die das latente Unbehagen, welches seit der Übernahme der Regierungsgewalt aus den Händen der Militärjunta immer vorhanden w;ar, zu einer bedenklichen Krise der Koalition ausgeweitet hat. An der Re- gierungskoalition bet fcgen sich die einflußreiche „Republikanische Volkspartei“ mit ihrem Vorsitzenden Ismet Inönü als Ministerpräsidenten, die „Partei der Neuen Türkei“ mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten sowie die relativ unbedeutende „Nationale Bauernpartei“. Die zweitstärkste politische Gruppe des Landes, die „Gerechtigkeitspartei“, welche mit Vorbehalt als Erbin der Konkursmasse der Men- deresschen „Demokraten“ anzusehen ist1, befindet sich zusammen mit der profillosen „Partei der Nation“ in der Opposition.

Der greise Ministerpräsident Inönü ist sichtlich des Regierens müde und nimmt immer mehr die Rolle eines „Beschwichtigungsgenerals“ zwischen den Koalitionsparteien ein, die einander mehr zu schaffen machen als die keinesfalls zu unterschätzende oppositionelle Gerechtigkeitspartei.

Die Flucht im Taxi

Die Ereignisse der letzten Wochen erregten nicht weniger heftig die Gemüter im Parlament wie das Erdbeben am 18. September, welches in Istanbul ein Menschenleben forderte. Der eigentliche Anlaß zu einer Reihe von gegenseitigen Mißtrauensanträgen unter den Koalitionsparteien war die Flucht des ehemaligen Menderes-Abgeord- neten Zeki Erataman. Der vom seinerzeitigen Revolutionstribunal zu lebenslänglicher Haft verurteilte Expolitiker und Arzt war Anfang dieses Jahres auf Grund eines ärztlichen Attestes vom Staatsgefängnis in Kayseri unter Bewachung in ein Istanbuler Spital eingeliefert worden.

Am Abend des 13. September gelang Erataman mit Hilfe seines

Sohnes die Flucht aus dem Krankenhaus. Unbegreiflicherweise konnten die beiden ein Taxi mieten, welches sie noch am selben Abend in die Nähe der 250 Kilometer entfernten Grenzstadt Edirne brachte. Hier verlief sich dann die Spur, ur i drei Tage lang hielt die Suche nach dem

Entsprungenen die Bevölkerung in Atem.

Als am 17. September aus Saloniki bekanntwurde, daß sich Erataman den griechischen Behörden gestellt und um politisches Asyl ersucht habe, brach ein allgemeiner Sturm der Entrüstung los. Noch am Vortag hatte nämlich der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Ahmet Demir — wegen seiner Strenge und um des Wortspieles willen (Demir heißt Eisen!) der „eiserne Ahmet“ genannt —, der die Suchaktionen entlang der Grenze persönlich leitete, in einer Pressekonferenz erklärt, es lägen keine Anzeichen vor, daß Erataman ins Ausland geflüchtet sei.

Erataman in Kavaliershaft

Die Entrüstung war um so berechtigter, als es einem anderen in Haft befindlichen Menderes-Politi- ker, Resat Aksemseddinoglu, schon

1962 gelungen war, aus dem Gefängnis auszubrechen und über die Grenze zu entkommen. Anfang September konnfcF sogar ein zum Tode verurteilter Mörder entspringen und spurlos untertauchen.

Der „Neuen-Türkei-Partei“ und der „Nationalen Bauernpartei“ war dies ein willkommener Grund, den Rücktritt des republikanischen Innenministers sowie eine Untersuchung der Affäre Erataman im Parlament zu fordern.

Bekata sah sich genötigt, langatmige Erklärungen abzugeben, die darauf hinausliefen, jede Schuld von sich abzuwälzen. „Der’ an der Krankenzimmertür diensttuende Gendarm habe es verabsäumt, die Behörden von der Flucht Eratamans sofort zu verständigen, da er erst dreieinhalb Stunden später Alarm geschlagen habe. Ein strenges Verhör habe ergeben, daß sich der Häftling mit Wissen des Pflegepersonals im Spital habe frei bewegen können, des öfteren Spaziergänge außerhalb des Tores unternommen habe, ja man habe ihm als Arzt sogar gestattet, andere Spitalsinsassen zu behandeln. Im übrigen unterstünden, so meinte der Innen minister, die Bewachungsmannschaften der in Yassiada Verurteilten dem Kassationsgerichtshof und nicht seinem Ministerium. Für das Verhalten des Spitalpersonals jedoch sei der Gesundheitsminister verantwortlich.“

Diese Bemerkung wurde von der „Neuen-Türkei-Partei“, aus deren Reihen der Gesundheitsminister Azizoglu stammt, als Kampfansage gewertet. Im Namen seiner Partei erhob nun Azizoglu seinerseits schwerste Anschuldigungen gegen den Innenminister und warf ihm grobe Verletzung seiner Amtspflichten vor. Die beiden Minister lieferten sich im Parlament förmliche Rededuelle.

Schließlich trat Innenminister Bekata am 4. Oktober 1963 unter dem Druck der Öffentlichkeit zurück. „Im Interesse des Vaterlandes und zur Rettung der Koalition“, wie er sich ausdrückte. Gleichzeitig versicherte er jedoch, daß er den Kampf gegen den Gesundheitsminister als Abgeordneter fortzusetzen gedenke, und beschuldigte ihn des Verstoßes gegen die Prinzipien der Revolution vom

27. Mai 1960.

Der „Schwarze Peter“ im Spiel

Der Gesundheitsminister wies diese Angriffe schärfstens zurück und verlangte eine parlamentarische Untersuchung zur Klärung der „ungeheuerlichen Beschuldigungen“. Die Taktik Bekatas war klar zu durchschauen, wollte er doch mit einer über alle Maßen hinausgehenden persönlichen Diffamierung auch die Demission Azizoglus erreichen. Um schließlich dem ministeriellen „Schwarzen-Peter-Spiel“ ein Ende zu setzen, stellte die „Nationale Bauernpartei“ den Antrag, in der Nationalversammlung eine Generaldebatte über die Kontroverse Bekata—Azizoglu abzuhalten. Dieser Antrag wurde mit den Stimmen der Parteien der beiden Minister abgelehnt, und Azizoglu bleibt vorläufig weiterhin im Amt.

Der in die Tagespolitik hineingetragene persönliche Streit lähmt seit Wochen die parlamentarische Tätigkeit in der Türkei.

Wie gefühlsbetont bisweilen türkische Politiker in ihren Handlungen sind, zeigt nicht nur das geschilderte Ministerduell! Am 7. Oktober 1963 unternahm der Vorsitzende der kleinen oppositionellen „Partei der Nation“ einen Selbstmordversuch, „weil er mit der Arbeit und den Erfolgen seiner Partei nicht zufrieden war“, konnte jedoch im letzten Moment gerettet werden. Der einzige Erfolg, den er damit seiner Partei gebracht hat, so kommentieren seine Gegner sarkastisch, ist der, daß er den Streit zwischen dem Exinnenminister upd dqm Gesundheitsminister für einen Tag von den Titelseiten der Zeitungen verdrängt hat.

Der General und das Kino

Die nur mehr auf schwachen Beinen stehende Regierungskoalition charakterisierte der Führer der oppositionellen Gerechtigkeitspartei, Gümüspala, treffend mit den Worten: „Die Koalitionssuppe ist eine kraftlose, kochende Brühe, die jeden Augenblick übergehen kann.“ Diese Tatsache ist mit ein Grund, warum der Seit dem mißglückten Putschversuch vom 21. Mai 1963 herrschende Belagerungszustand in den Städten Ankara und Istanbul um weitere zwei Monate verlängert wurde. Dadurch besteht die Möglichkeit, über die im Verordnungsweg regierenden Stadtkommandanten Einfluß auf die Stadtverwaltung zu nehmen. Dies führte sogar dazu, daß der Kommandant von Istanbul anordnete, der Vorverkauf von Kinokarten dürfe nur zwei Stunden vor der Vorstellung erfolgen.

Die Vorbereitungen zur Feier des 40. Jahrestags der türkischen Republik wurden somit von kleinlichem Zank der Parteien überschattet, der Ausdruck des gegenseitigen Mißtrauens im Kampf um die Macht im Staate ist. Hier und da wird wohl auch der Ruf nach einem „wirklich starken“ Mann laut, obwohl niemand recht daran glaubt, daß es so bald einen solchen geben wird.

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