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Benbellas Polit-Philosophie

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Seit Herbst letzten Jahres starrte ganz Algerien mit zunehmender Intensivität auf ein Ereignis. Seit Monaten schon hatte sich in den Ministerien, Verwaltungsämtern und Kollektivierungsbehörden erneut Vorsicht, Lähmung und Passivität breitgemacht. Die dem Wohl des durchaus noch nicht reorganisierten Landes also entzogene Betriebsamkeit erstreckte sich vielmehr auf ein altes Beamtenspielchen: sich nämlich die Chancen für Auf- oder Abstieg zu errechnen, so man auf die Karte dieses oder jenes Politikers, auf Partei- oder Armeelinie, rechte oder linke Opposition setzt. Denn das Ereignis, davon ist jeder überzeugt, führt Kräfteverschiebungen, Ministerwechsel, verbunden mit Ge-wichtszu- oder -abnähme dieses oder jenes politischen Grüppchens mit sich.

Beim Ereignis selbst handelt es sich um den seit der Ausrufung der algerischen Unabhängigkeit und Errichtung des Benbella-Regimes ausstehenden ersten FLN-Parteikon-greß. Bisher stand das verfassungsmäßig von der Einheitspartei gesteuerte freie Algerien auf der provisorischen Basis des sogenannten Programms von Tripolis. Dieses war im Frühjahr 1962 von der damaligen Parteispitze, dem „Nationalen Revolutionsrat“ — freilich erst nach Auszug der Unheil witternden Benbella-Gegner —, angenommen worden.

Mit dem Tripoliser Programm und der Hilfe des Chefs der damals sogenannten Grenzarmee, Boumedienne, hatte Benbella tatsächlich in der Folgezeit die programmlose, ihm vor allem aber feindliche Exilregierung aus dem Sattel gehoben, die kabyli-schen Anhänger des in dieser tonangebenden' Krim Belkassem sowie den städtischen und gewerkschaftlichen linksextremen Parteiflügel überrumpelt. In den nachfolgenden Wahlen zur Nationalversammlung mit Einheitslisten gestand er seinen Widersachern allerdings eine wohldosierte — offiziell heißt es: den wirklichen Verhältnissen nachgebildete — oppositionelle Fraktion zu. Sie steht seitdem abwechselnd auf dem Boden legaler, wenn auch wirkungsloser Parlamentsopposition, im Exil oder illegalen „Maquis“, letzteres mehr oder weniger in der unzugänglichen Kabylei.

Dort sammelte der frühere Aufstandsführer Si Mohand und Benbellas ehemaliger Haftgenosse in französischer Gefangenschaft, Ait Ahmed, nicht nur zu einer Spaltpartei, „Sozialistische Front“ genannt, sondern führte ihnen im Oktober letzten Jahres auch eine eigene Militärmacht in Form des zur Meuterei aufgerufenen kabylischen Wehrbezirks zu. Einige Monate vorher hatte ein weiterer Exmithäftling Benbellas, der linksextreme Boudiaj, regimefeindliche Propaganda unklugerweise bis in die Hauptstadt Algier getragen, wo er denn auch prompt von Boumediennes Militärpolizisten verhaftet, später laufengelassen und in die Schweiz abgeschoben wurde.

Das Eidgenossenland und Frankreich waren vorübergehend rechte Tummelplätze sämtlicher ehemals führender, von Benbella ausgebooteter Partei- und Regierungspolitiker. Zu Boudiaf gesellten sich zeitweise Krim und dessen „graue Eminenz“ in der ehemaligen Exilregierung, Boussouf, zuweilen auch der anfänglich mit Benbella als dessen neuer Parteichef gegen die früheren Minister marschierende, schließlich abgesprungene Mohamed Khider. Untereinander durchaus nicht einig, stimmten die Neuexiler doch darin überein, daß Benbella die FLN-Par-tei entweder kaltgestellt oder usurpiert habe, den ausstehenden Kongreß daher bösen Gewissens hinauszögere.

In der Tat hatten weder Benbella noch sein letzter Regimepartner Boumedienne, der von Parteiherrschaft sowieso nichts hält, Eile, den im Prinzip eines Tages fälligen Parteitag abzuhalten. Beide waren vielmehr darauf bedacht, die noch im Geburtsstadium befindliche untere Parteiorganisation auf die jeweilige eigene Linie zu bringen, zum Teil wirkungsvoll gekontert von einzelnen Oppositionsführern, die sich mit ihrem letzten Einfluß in regionalen FLN-Zellen festkrallten.

Das allgemeine Tauziehen um die mit Benbellas Verfassung zum Staatsträger erhobene Einheitspartei war gerade angelaufen, als Si Mohands und Ait Ahmeds Kafoylen-revolte das Regime zum innenpolitischen Methodenweohsel zwang. Die Kabylen verstanden sich' erst zum Burgfrieden, als Benbella ihnen versprach, den Parteitag bis spätestens Frühjahr 1964 abzuhalten, wobei

„Mißverständnisse mit allen wertvollen Revolutionskräften“ diskutiert und ausgebügelt werden sollten. Umlassender Regimeumbau im Gefolge des nioht mehr zu umgehenden Kongresses schien sich tatsächlich anzubahnen, da sich der Gegensatz zwischen den Regimepartnern Benbella — Vertreter einer Art Kuba-Sozialismus — und Boumedienne — Anhänger des Kairoer Staatssozialismus — zum offiziösen Zwist ausweitete, ja Benbella zwang, Rückhalt bei linken und sogar rechten „Abweichlern“ zu suchen. So war die Lage noch vor Wochen.

Das alle regierenden wie ndcht-regierenden Tendenzen erfassende Kongreßvorspiel endete indes mehr oder weniger plötzlich mit der vor Wochen erfolgten Festlegung des Kongreßtermins für den 16. April. Damit waren die mitwirkenden Hauptpersonen offensichtlich ausgehandelt, der Ablauf und die Folgen des Ganzen vorprojiziert. Um sich dennoch gegen peinliche Überraschungen zu sichern, wurden Armee- und Polizeikontrolle im ganzen Lande verstärkt, ausländische Gastdelegationen und Presse von den Kongreßdebatten ausgeschlossen.

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