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Noch einmal Zivilisten

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In der Türkei reagierte man mit großer Erleichterung auf die durch Staatspräsident Cevdet Sunay erfolgte erneute Beauftragung des zurückgetretenen Ministerpräsidenten Nihat Erim mit der Regierungsbildung. Diese Erleichterung war sogar die Grundstimmung in der konservativen „Gerechtigkeitspartei“ des früheren Premierminister Suleiman Demirel, die in der „Volkskammer“ über die Mehrheit verfügt und sich bislang gegen die Reformpläne der Regierung des nationalen Notstandes gesträubt hatte. Nach Meinung türkischer politischer Kreise erhält die Demokratie in dem südlichsten NATO-Land damit noch einmal eine Chance, die zu ernsthaften und raschen Reformen genutzt werden müßte.

Das Kommuniąuė aus dem Präsidentenpalais im Regierungsvorort Cankaya wurde von vielen Beobachtern zunächst nicht recht geglaubt. Die einen rechneten, wozu das Militär auf gebot am Vorabend des Nationalfeiertages beigetragen haben mag, mit einer unmittelbar bevorstehenden Machtergreifung der Armee. Die anderen sprachen von der Verhaftung des umfangreicher Korruption zugunsten seiner Familie bezichtigten Demirel und von Parlamentsauflösung. Erim machte den Spekulationen ein Ende, indem er vor der in- und ausländischen Presse den vom Präsidenten erhaltenen und akzeptierten Auftrag zur Regierungsneubildung bekanntgab.

Die Ausgangsposition des 57jähri- gen Juristen und geschulten Parlamentariers ist, wie Kenner der Verhältnisse glauben, diesmal günstiger als bei seiner ersten Kabinettsbildung vor einem halben Jahr. Er hat sich vom Staatschef und dem Armeekommando verbriefen lassen, daß er bei der Berufung seiner Minister völlig frei von parlamentarischen Rücksichten Vorgehen könne. Außerdem verlangt er allerdings eine einmütige Zustimmung der

„Volkskammer“ zu seinem Reformprogramm. Sie ist heute wahrscheinlicher als irgendwann in den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit. Nachdem es ihm nicht gelang, die stillschweigende Duldung durch seinen Vorgänger und Rivalen Demirel, der noch Chef der Parlamentsfraktion der „Gerechtigkeitspartei“ ist, durch vornehme Zurückhaltung gegenüber den gegen Demirel gerichteten Korruptionsvorwürfen zu erlangen, versucht er es jetzt mit Härte. Bei den mehrstündigen Beratungen im Präsidentenpalais, zu denen Demirel zeitweilig zugezogen worden war, zog er ein umfassendes Dossier voller Anklagen gegen den gestürzten Premier aus der Tasche. Was darin enthalten ist, schok- kierte selbst die an Politikerberei cherungen großen Stils gewöhnten Türken. Der Vorwurf, Demirel habe seinen vorher mittellosen Brüdern riesige Staatskredite zugeschanzt, ist dabei nur die Spitze eines Eisberges. Ministerpräsident Erim besteht jetzt auf der restlosen Aufklärung dieser Anklagen durch das Parlament und danach möglicherweise durch die Justiz.

Der Riß zwischen Demirel und seiner Fraktion dürfte den Weg frei machen zu einer, wenn auch zögernden Zustimmung der „Gerechtigkeitspartei“ zu den Reformplänen der Regierung. Die Mehrheitsfraktion muß von nun an damit rechnen, daß der mehr denn je nicht dem Parlament, sondern den Streitkräften verpflichtete Premierminister zwar Neuwahlen ausschreibt, aber vorher die „Gerechtigkeitspartei“ auflöst.

Der konzentrierte Angriff auf Demirel, birgt allerdings, genau wie die wenig differenzierten Massenverhaftungen, Folterungen und Militärgerichtsprozesse, die Gefahr einer Personalisierung der türkischen Entwicklungsprobleme. Für das Bosporusland geht es nicht darum, einzelne Persönlichkeiten, die korrupt oder radikal sind, aus dem öffentlichen Leben zu entfernen. Das ist nur eine (allerdings nicht unwichtige) Nebenaufgabe der Regierung. Es geht darum, in der lethargischen Bauernbevölkerung des anatolischen Hochlandes und bei der Arbeiterschaft der notleiden Industrien Reformgeist zu wecken. Diese schwierige Aufgabe liegt noch vor dem bislang eher vorsichtig lavierenden Erim.

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